Die Hexen - Roman
Einkäufe bezahlen wollte, sprach sie die Schwarzgekleidete an. »Ein Spiegelorakel? Worum geht es? Sucht ihr jemanden? Dann würde ich statt Rosenquarz Amethyst nehmen. Dieser Stein erschließt Bereiche unseres Denkens, die wir meist ungenutzt lassen. Das Unbewusste.«
Lächelnd legte Oriana ihr den Kristall in die Hand. Yvonne fühlte, wie sich der Stein in ihre hohle Hand schmiegte. Das Licht der Neonröhre, die den Kassenbereich beleuchtete, spiegelte sich auf den glatten Flächen. »Und Mondstein? Mondstein beleuchtet den Pfad ins Ungewisse, habe ich gehört.«
Oriana nickte lächelnd. »Mondstein und Malachit wirken ausgezeichnet zusammen«, bestätigte sie. »Der grüne Stein öffnet die Tore zum Übersinnlichen und ermöglicht es, Stimmen aus dem Zwischenreich zu hören. Geht es um eine bestimmte Person? Jemanden, den ihr kennt? Dann würde ich noch einen einzelnen, möglichst gerade gewachsenen Bergkristall dazunehmen.«
»Du kennst dich ziemlich gut aus«, bemerkte Yvonne, während Oriana die Steine in dünnes, graues Papier wickelte und in eine Tüte legte. »Hast du heute Abend schon etwas vor?«
Und nun flackerten Kerzen in den Ecken des Raums und die Matte am Fenster sperrte das Mondlicht aus. Auch Merle schien die Spannung zu spüren, die in der Luft lag: Unruhig strich die Katze um die Küchenstühle und maunzte.
»Du wolltest mir etwas zeigen«, erinnerte Yvonne ihre Besucherin. Etwas an Orianas finsterer Art gefiel ihr ganz und gar nicht, doch andererseits war sie die Einzige von ihren Bekanntschaften der letzten Zeit, die so etwas wie eine echte magische Begabung erkennen ließ.
Oriana streckte die Füße unter den Tisch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Immer mit der Ruhe«, mahnte sie. »Du scheinst es noch immer nicht ganz zu begreifen: Magie entsteht nicht aus Ansprüchen, sondern aus Opferbereitschaft, Hunger und Entbehrungen. Der Weg zu wahrer Macht …« An dieser Stelle beugte Oriana sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. »Der Weg zur Macht ist überaus steinig. Glaub mir, ich bin ihn selbst gegangen. Als ich am Ziel angelangt war, hatte ich alles aufgegeben – sogar mich selbst.«
Yvonnes Unbehagen wuchs, als Oriana ein silbernes Messer hervorzog und es vor sich auf den Tisch legte. Wer war diese Frau, die wie eine schwarze Krähe in ihrer Küche hockte und so tat, als habe sie sämtliche Weisheit der Welt auf ihrem Haupt versammelt? Zum Glück wird Mémé nie erfahren, was wir hier treiben, dachte sie.
Suchend sah Oriana sich in der Küche um. Auf der Fensterbank entdeckte sie einen Tontopf mit weißen Rosen. Die ersten Knospen waren gerade aufgegangen. Oriana griff nach dem Messer und trennte die Blütenköpfe mit schnellen Schnitten ab.
»Was machst du! Was soll das?« Zornig sprang Yvonne auf. Den Rosenstrauch hatte sie ihrer Schwester am Beltainetag geschenkt. Sie wusste zwar, dass Ravenna mit Hexensabbaten nichts anfangen konnte, aber weiße Rosen liebte sie über alles.
»Tat das weh?« Da war es wieder, das überhebliche Lächeln. »Es muss noch mehr wehtun.«
Oriana zog das Tuch zur Seite und warf drei Blüten in die Schale. Mit einer geübten Bewegung zog sie sich die Klinge über den Handballen. Dicke Tropfen fielen auf die Rosenblätter, das Seidentuch und die Tischplatte. Alles färbte sich rot. Oriana ließ das Blut laufen, bis eine Blüte nach der anderen vollgesogen war und sank.
»Was machst du denn? Was ist bloß in dich gefahren?« Yvonne keuchte, als sie das Handgelenk ihrer Besucherin sah. Ihr wurde flau im Magen, denn die Haut war von hässlichen roten Narben entstellt. Offenbar schnitt Oriana sich gerne mal in die Hand.
»Wenn wir Magie wirken, darf niemand verletzt werden«, schimpfte Yvonne, während sie das Verbandszeug holte und ihrer Besucherin ein Pflaster über die Wunde klebte. Mit einem schiefen Grinsen ließ Oriana zu, dass sie verarztet wurde. »So lautet das Gesetz vieler magischer Zirkel – unseres Kreises übrigens auch.«
»Ach, ihr weißen Hexen.« Oriana lachte. Dann zuckte sie die Achseln. »Ich befolge meine eigenen Gesetze. Glaubst du, ich kann nicht spüren, dass hier etwas vorgefallen ist? Etwas … Dunkles voller Gewalt und Gefahr. Wie ein Schatten hängt es immer noch im Raum.« Erregt erhob sie sich und schritt durch die Küche. Vor der Anrichte blieb sie stehen. Schwach waren dort die verkohlten Umrisse des Rings zu sehen, den der Einbrecher in die Dielen gebrannt hatte. Es war ein
Weitere Kostenlose Bücher