Die Hexen - Roman
Psychopath gewesen, ganz eindeutig, und es beunruhigte Yvonne sehr, dass der Kerl noch immer frei herumlief.
»Ich weiß, dass ihr nie an das Böse denkt«, fuhr Oriana fort. »Ihr verbannt es aus Euren Gedanken und glaubt dann, damit sei es aus der Welt geschafft. Aber ihr irrt euch! Es ist immer da, genau wie das Licht!« Wieder fuhr sie mit den schwarzen Fingern ägeln durch die Luft. Ein Windstoß wirbelte die Tarotkarten vom Fensterbrett und die Tür knallte zu. Erloschene Kerzendochte qualmten. Die Katze verkroch sich unter dem Tisch.
Alle Achtung, dachte Yvonne. Was immer sie da gerade tut – sie hat es voll drauf. Eine innere Warnglocke schrillte in ihr auf und riet ihr, das Geschehen sofort abzubrechen, ehe es außer Kontrolle geriet. Andererseits war sie seltsam fasziniert von der dunklen Gabe ihrer Besucherin.
»Gedankenübertragung ist also nicht alles. Sicher hast du noch einige andere Überraschungen auf Lager«, stellte sie herausfordernd fest.
»Warum drückst du es so abwertend aus?«, entgegnete Oriana scharf. »Das hört sich ja an, als müsste man sich schämen, nur weil man Macht besitzt. Seit Jahrhunderten werden wir beschimpft, geschmäht, vertrieben und sogar verbrannt, aber es hat unserem Einfluss nicht geschadet – im Gegenteil: Je mehr Leid in der Welt ist, desto stärker werden unsere Kräfte. Auch das ist ein magisches Gesetz, Schwester, nur hört es niemand gern.«
Bei dem Wort Schwester zuckte Yvonne zusammen. Ihre Besucherin sah es und legte die Hand auf ihre. »Als du heute in den Laden kamst, warst du vollkommen verzweifelt … nein, sei still und warte, was ich zu sagen habe. Ich habe es gleich gesehen: Du bist eine gefangene Seele. «
Yvonne schwieg. Von der Berührung der anderen ging ein eigenartiger Trost aus. Zum ersten Mal fühlte sie sich angenommen und verstanden, obwohl sie Oriana erst seit wenigen Stunden kannte. Weder Mémé noch Ravenna hatten wirklich begriffen, was in ihr vorging. Wie die Gabe in ihr brodelte und an die Oberfläche drängte. Wie viel Kraft es sie kostete, die Magie Tag für Tag zu unterdrücken und so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Tief in ihrem Inneren verbarg sie jene fremde Sprache, deren Anwendung Mémé unter Strafe gestellt hatte. Wie Vögel im Käfig saßen die Worte zwischen ihren Rippen gefangen, ohne Hoffnung auf Freiheit. Thagianier!, rief Yvonne und die Vögel verstummten.
»Eine gefangene Seele? Was soll das denn sein?«, murmelte sie.
»Eine Seele, die ihrer Bestimmung nicht folgen kann«, erklärte Oriana sanft. »Fühlst du dich nicht auch zu vielen Zwängen unterworfen? Zu viele Pflichten, zu wenig Zeit, um dem Ruf der Kraft nachzugeben – und es gibt niemanden in deiner Umgebung, dem du dein wahres Gesicht zeigen würdest. Die meisten Menschen verstellen sich ihr ganzes Leben lang. Wir tun das nicht.« Mit einem tiefen Atemzug nahm Oriana wieder auf dem Stuhl Platz.
»Wer ist denn wir? Gibt es noch mehr von euch?«
Ihre Besucherin lachte. »Du wärst erstaunt, wie viele zu unseren geheimen Treffen kommen. Man entfaltet eine ungeheure Stärke, wenn man nicht so viele Zweifel mit sich herumträgt.«
»Das heißt, ihr handelt vollkommen gewissenlos.«
Verärgert beugte Oriana sich vor. »Ich habe dich heute Nachmittag nicht aus Zufall angesprochen, sondern weil ich dachte, dass ich dir vielleicht helfen kann. Aber wenn du lieber auf meinen Rat verzichten möchtest – bitte.«
»Nein.« Fast wäre Yvonne ebenfalls aufgesprungen, als ihre Besucherin aufstand und zur Tür ging. Als Oriana zögerte, sank sie in den Stuhl zurück und legte die Hand über die Augen.
»Nein«, stieß sie endlich mit einem langen Atemzug hervor. Sie ließ die Hand wieder sinken. »Geh nicht! Einen Versuch ist es wert.« Ravenna wird mich hochkant aus ihrer Wohnung werfen, wenn ich ihr von diesem Abend erzähle, dachte sie. Aber sie ist nicht hier und genau das ist das Problem.
Oriana griff in ihre Umhängetasche und holte einen schweren, verhüllten Gegenstand hervor. »Ich habe etwas mitgebracht«, erklärte sie. »Man nennt es das Auge des Teufels.«
Als sie das Tuch auseinander schlug, veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Die Luft verdichtete sich, bis Yvonne nur noch mit Mühe atmen konnte. Ihr Gesichtsfeld verengte sich. Etwas zwang sie, das Teufelsauge anzusehen.
»Pack das weg!« Überstürzt sprang sie auf und warf dabei den Stuhl um. »Steck es wieder ein!«
Oriana lachte wieder. »Hast du Angst? Im Ernst? Bist du wirklich
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