Die Hexen - Roman
magischen Gegenständen alles andere als harmlos war.
Yvonne seufzte. Als sie den Kopf hob, kreuzten sich ihr und Orianas Blick. Ein herablassendes Lächeln spielte um den Mund der jungen Frau. Als Einzige war sie dunkel geschminkt und ganz in Schwarz gekleidet. Sie trug ein enges Mieder und einen Rock aus Samt, hohe Schnürstiefel, dazu schwarzen Lippenstift, schwarzen Nagellack und, als sei das noch nicht genug, ein umgedrehtes ägyptisches Kreuz an einer Kette um den Hals. Das Ankh bestand aus einer Schlaufe mit Querbalken und Henkel. Aus Büchern wusste Yvonne, dass es als Zeichen für das ewige Leben angesehen wurde. Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, wenn man es verkehrt herum trug. Vielleicht, dass das Leben der betreffenden Person auf dem Kopf stand?
Schick sie weg!
Yvonne zuckte zusammen. Sie hörte die Worte so deutlich, als wären sie laut ausgesprochen worden. Zweifelnd betrachtete sie Oriana. War es möglich …
Schick sie weg, sonst wird das nie was. Sobald wir allein sind, zeige ich dir, was du sehen willst.
Yvonnes Herz pochte hart. Orianas Blick durchbohrte sie. Warum habe ich die bloß eingeladen!, dachte sie und wurde wütend auf sich selbst. Sie scheuchte die Katze von ihrem Schoß, stand auf und verrichtete einige überflüssige Handgriffe am Herd. Dann drehte sie sich um. Oriana hatte sie auf Schritt und Tritt beobachtet. Ihr Lächeln war noch ironischer. Da hält sich wohl jemand für ziemlich überlegen, dachte Yvonne.
Sie nahm das dünne, weiße Seidentuch, das auf der Fensterbank lag, und warf es mit Schwung über die Zinnschale. »Genug für heute«, verkündete sie. »Morgen ist Neumond, dann versuchen wir es wieder. Wahrscheinlich ist das eine günstigere Nacht.«
Die anderen Mädchen blinzelten und räkelten sich. Erleichtert schoben sie die Stühle zurück. Juliana bedauerte, dass sie Yvonne bei der Suche nach ihrer Schwester nicht hatte helfen können. Marie machte sich Sorgen, weil ihre Magie nicht gewirkt hatte.
»Vielleicht ist Ravenna in Gefahr«, überlegte sie. »Ich meine, vielleicht steht sie unter einem Bann oder so und wir konnten sie deshalb nicht im Spiegel sehen.«
»Meine Schwester?« Yvonne lachte auf. »Alles, nur das nicht. Ravenna würde um jede Art von Magie genau so einen Bogen machen wie du um eine an der Wand lehnende Leiter.«
»Ja aber«, beharrte Marie, »mal angenommen, sie hat gar nicht gemerkt, dass sie verflucht wurde. Was dann?«
»Tja«, sagte Yvonne, während sie am Türrahmen lehnte. »In diesem Fall müssen wir wohl unsere Kräfte bündeln, um sie von dem Fluch loszusprechen. Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.«
»Hast du das eigentlich schon einmal gemacht? Jemanden verflucht?«, wollte Juliana wissen.
»Nein«, beruhigte Yvonne das Mädchen und schob sie freundlich in Richtung Treppe. »Und ich würde es auch nie tun. Wir sind weiße Hexen, schon vergessen? Und jetzt kommt gut nach Hause. Gute Nacht!«
Sie wartete, bis sie die Eingangstür ins Schloss schnappen hörte. Dann drehte sie sich um. In diesem Augenblick ging das Licht im Treppenhaus aus und sie stand im Dunkeln. Den hellsten Fleck bildete das Dachfenster über den Stiegen. Bleigraues Licht sickerte durch die Scheiben.
Da hinten hat er gestanden, fuhr es Yvonne durch den Kopf. Wie schrecklich muss das gewesen sein. Arme Ravenna. Sie beeilte sich in die Wohnung zurückzukehren und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Als sie den Flur durchquerte, stellte sie die Stereoanlage aus, die auf der Kommode stand. Mit überkreuzten Armen lehnte Oriana in der Küchentür.
»Das war gelogen«, stellte sie fest. »Leermond war vor zwei Tagen. Wenn sie nach Hause gehen, werden sie die dünne Sichel sehen.«
»Und wenn schon«, erwiderte Yvonne wütend. »Wie machst du das mit den … mit der …« Sie ließ den Finger vor der Schläfe kreisen und suchte nach dem richtigen Ausdruck.
»Mit der Gedankenübertragung?« Oriana zuckte die Achseln. »Das konnte ich schon als kleines Mädchen. Da ist nichts weiter dabei. Was ist deine Gabe?«
»Das Rufen«, erwiderte Yvonne. Die schwarz gekleidete junge Frau zog eine Braue hoch, und Yvonne konnte nicht beurteilen, ob sie beeindruckt oder belustigt war. »Setz dich«, forderte sie ihren späten Gast auf und deutete auf den zweiten Stuhl.
Oriana hatte sie in dem kleinen Laden bedient, in dem sie das Zubehör für diesen Abend gekauft hatte: die Zinnschale, das Räucherwerk, die Kerzen und die Kristalle. Als Yvonne ihre
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