Die Hexen - Roman
beugte sie sich nach vorn und für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen.
»Ach, du Ahnungslose, du begreifst wirklich nichts vom Wesen dunkler Magie«, sagte Oriana leise. »Und jetzt gib mir die Katze. Gib sie her! Schöne Merle … braves Tier.«
Später sollte Yvonne sich immer wieder fragen, wie es zu den grausigen Szenen gekommen war, die sie in den nächsten Minuten erlebte. Plötzlich hallte ein Befehl in ihren Gedanken, ein Wort der Verbotenen Sprache, und sie sollte nie herausfinden, ob sie selbst es gedacht oder ob Oriana es ihr eingegeben hatte.
Givanier!
Ihre Finger öffneten sich und sie spürte, wie Oriana ihr die Katze aus den Händen nahm. Die schwarze Hexe setzte Merle auf den Tisch und streichelte sie sanft. Dann zückte sie den Dolch.
Mit einem Aufschrei stürzte Yvonne zum Tisch. »Nein! Merle – nein!« Ihr Hilferuf fiel mit dem grellen Kreischen der Katze zusammen. Dann war alles vorbei. Gelähmt vor Entsetzen blickte Yvonne auf das zusammengesunkene Tier. Von der Messerspitze rannen einige dunkle Tropfen in die Zinnschale. Oriana zählte sie genau ab. Dann legte sie das Messer zur Seite und griff nach dem Teufelsauge.
»Nimm es! Sieh hinein!«, zischte sie. »Lass die Chance nicht verstreichen, nur weil du schwach wirst! Vielleicht bekommst du nie wieder eine Gelegenheit, nach deiner Schwester zu suchen.«
Ein trockenes Schluchzen drang aus Yvonnes Kehle. Nie zuvor hatte sie sich so elend gefühlt, unglücklich, schlecht, vergiftet bis ins Mark. Sie packte den ekelhaften Kristall, um ihn gegen die Wand zu schleudern und für immer zu zerschmettern.
Er lebte. Er war warm wie menschliche Haut und in seinem Inneren loderte ein Pentagramm aus Feuer. Wie eine glühende Iris saß der Fünfzackstern um eine schwarze Pupille und zeigte ihr Bilder …
Straßburg bei Nacht. Die Gassen waren vom Fackelschein erhellt und die ganze Stadt war auf den Beinen. Auf dem Platz vor dem Münster ragte ein Pfahl auf, um den Reisigbündel und Holzscheite aufgeschichtet waren. Wächter hatten zu beiden Seiten des Scheiterhaufens Aufstellung genommen. Jemand sollte hier sterben. Eiskalt fuhr es Yvonne in die Glieder, als sie dies begriff. Aber wer?
Wer?, schrie sie im Traum die Wächter an. Die Männer trugen Masken aus Eisen und kümmerten sich nicht um die schäbig gekleidete Frau, die Holzschuhe trug, mit den Fäusten gegen die Schilde trommelte und klagte: Wer soll hier sterben? Wer?
Schluchzend taumelte sie über den Platz. Der Boden war voller Schlamm und Sägespäne, sie erkannte das Münster und die umliegenden Straßenzüge … doch wer war sie? Sie spürte nur, wie sehr sie sich schämte, denn ihr Kleid aus handgesponnener Wolle war zerrissen und ihre Haare waren dreckig und verfilzt.
Als sie den Kopf hob, bemerkte sie, dass sich die Wächter in Bewegung setzten. Die Soldaten kamen auf sie zu. Da geriet sie in Panik und versuchte zu fliehen, aber mit ausgebreiteten Armen und verzerrten Gesichtern trieb die Menschenmenge sie immer wieder auf den Platz zurück. Ihre Knie gaben nach, als die Männer sie packten. Ihre Fäuste waren unnachgiebig hart, wie Eisenbande umschlossen sie Yvonnes Handgelenke. Und da begriff sie.
Ich! Ich soll hier sterben!
Yvonne taumelte ins Bad. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie klammerte sich ans Waschbecken und übergab sich mehrmals, bis sie nur noch galligen Schaum hochwürgte. Zitternd saß sie danach auf dem Toilettendeckel und wartete, bis die ärgsten Gliederschmerzen verebbt waren.
Was hatte sie getan? Welcher Teufel hatte sie geritten, sich eine Schwarzmagierin ins Haus zu holen – mitten in den magischen Bannkreis? So leichtsinnig war sie in ihrem ganzen Leben nie gewesen, und sie konnte von Glück sagen, dass nicht noch mehr passiert war. Obwohl …
Auf wackligen Beinen tastete sie sich die Wände entlang in die Küche zurück. Ihr Herz klopfte wild, aber Oriana war verschwunden und mit ihr der Dolch und der schwarze Kristall. Merle lag auf dem Tisch. Beim Anblick des schlaffen, leblosen Körpers sank Yvonne an der Wand zu Boden und schluchzte haltlos.
War das wirklich der Preis für die magische Gabe? War es tatsächlich so, dass die Mächte einen Blutzoll forderten, ehe sie eine Zauberin zwei oder drei Herzschläge lang an der Kraft teilhaben ließen? War das die Lektion des heutigen Abends?
Die Mächte – oder irgendein finsterer Dämon, dachte Yvonne und bebte vor Zorn. Was haben sie mir denn nun schon Großartiges enthüllt?
Weitere Kostenlose Bücher