Die Hexen - Roman
flüsterten und schmiedeten Pläne für den Nachmittag. Wie eine Schulklasse, die hitzefrei bekommen hat, dachte Ravenna. Sie hielt sich am Rand der Menge auf, denn hier kannte sie kaum jemanden.
»Ruhe!« Obwohl sie kaum lauter gesprochen hatte, drang die Stimme der Elfe durch den ganzen Saal. »Dass wir nicht da sind, bedeutet nicht, dass der Unterricht ausfällt. Die Älteren von euch nehmen die Mädchen im ersten und zweiten Jahr unter ihre Fittiche und gehen mit ihnen noch einmal den Ablauf der Feierlichkeiten während des Turniertages durch. Ich verlange, dass bei der Schwertleite jede an ihrem Platz steht und weiß, was sie zu tun hat. Stümperei oder Nachlässigkeit werden hart bestraft!«
Mavelles Blick glitt von einer Schülerin zur anderen. Eifrig nickten die Mädchen mit den Köpfen. Und ich dachte, Aveline wäre streng, ging es Ravenna durch den Kopf. Plötzlich zuckte sie zusammen, denn sie hörte ihren Namen.
»Weiß jemand, wo unsere Neue ist?«, fragte Mavelle laut in den Saal hinein.
»Hier steht sie!«, hörte Ravenna und schon erhielt sie einen Stoß zwischen die Schulterblätter, der sie vorwärts taumeln ließ. Zornig fuhr sie herum. Lynette und ihre Freundinnen standen hinter ihr und grinsten. »Oh, seht nur, sie will sich schlagen!« Die blonde Hexenschülerin rümpfte die Nase. »Nun, wen wundert das? Stellt euch vor, gestern hat sie Lucian erzählt, dass sie am Münster arbeitet und den ganzen Tag Steine schleppt.« Der Saum ihres Kleides fegte über den Boden und sie trug eine hohe Haube ohne Krempe, von deren Spitze ein Schleier hing.
»Wer hat dir erzählt, worüber ich mit Lucian rede?« Hitze wallte in Ravenna auf und ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie musste wieder an das junge Paar unter der Linde denken. War die Frau etwa Lynette gewesen?
Die junge Hexe lachte. »Hier gibt es keine Geheimnisse. Wir sind eine Gemeinschaft, aber du gehörst nicht dazu.« Die anderen Mädchen wichen vor ihr zurück, als sie mit den Fingern hastige Zeichen in die Luft schrieb und dabei flüsterte: »Sieben Dornen, rot wie Blut, sieben Eisen in der Glut …«
Plötzlich stand Mavelle neben ihnen. Die Elfe fasste Ravenna am Arm. »Was machst du denn noch hier? Die Pferde stehen gesattelt im Hof und alle warten auf dich.« Und zu Lynette sagte sie: »Du wirst heute eine besondere Aufgabe erledigen. Der Taubenschlag wurde schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gereinigt! Wenn wir zurückkommen, will ich dort keinen einzigen modrigen Strohhalm und kein Krümelchen Kot mehr finden. Übrigens – die Decke ist ziemlich niedrig. An deiner Stelle würde ich mir also etwas Passendes anziehen«, setzte die Elfe mit einem Blick auf die Burgunderhaube hinzu.
Lynettes Gesicht wurde dunkelrot. Zornig tuschelte sie mit ihren Freundinnen, aber sie wagte keinen Widerspruch gegen die Anweisung der Elfe.
»Was war das denn eben?«, fragte Mavelle, während sie Ravenna zum Ausgang schob. »Eine kleine Teufelsbeschwörung kurz vor dem Frühstück? Dieses Biest muss aufpassen, dass sie nicht in hohem Bogen aus dem Konvent fliegt.«
»Gibt es denn auch böse Hexen?«, fragte Ravenna verwirrt.
Mavelle rollte mit den Augen. »Du würdest kein Auge mehr zutun, wenn du wüsstest, was es alles gibt«, seufzte sie und stieß die Tür zum Innenhof auf.
Es goss in Strömen. Pfützen sammelten sich auf den Kieswegen, und der Regen spritzte von den Vordächern und Mauerkronen.
»Ich hole noch schnell meinen Umhang«, murmelte Ravenna. Im Laufschritt stürmte sie die Treppen zu ihrer Kammer hinauf. Arletta hatte ihr Brot, Honig und frische Fassbutter auf den Tisch gestellt. Ravenna war dankbar, denn bereits zum zweiten Mal brach ihr Tag ohne Frühstück an – vor allem aber ohne eine Tasse frisch gebrühten Kaffee. Sie liebte ihn stark, süß und mit viel Milchschaum, doch leider sollte sich das Getränk erst vierhundert Jahre später von Italien aus in Mitteleuropa verbreiten. Da werde ich wohl noch ein wenig warten müssen, dachte sie mit schiefem Grinsen.
Sie stopfte sich ein Stück Brot in den Mund und öffnete die Truhe. Der graue Kapuzenmantel war warm und weich, aber der Wollstoff würde den Regen kaum abhalten. Seufzend entschied sie sich für ihre Regenjacke. Mochten die anderen das Kleidungsstück ruhig für Hexenwerk halten – dafür würde sie als Einzige halbwegs trocken an König Constantins Hof eintreffen.
Sie rannte durch den Innenhof. Die Pferde warteten unter dem Gewölbegang, damit Sättel und Reiter
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