Die Hexen - Roman
Außer meinen eigenen Ängsten, dass man auch mich in früheren Zeiten als Hexe bezichtigt und verfolgt hätte, hat Oriana mir nicht das Geringste gezeigt! Ich weiß noch immer nicht, wo Ravenna ist und wie ich meine Schwester finden kann. Erneut krampfte sich ihr Magen schmerzhaft zusammen und sie presste die Faust auf den Mund.
Als die Welle der Übelkeit vorübergegangen war, rappelte sie sich vom Boden auf. Das Wasser in der Zinnschale war verdampft. Die Steine auf dem Grund des Beckens waren zu schwarzen, rissigen Klumpen verkohlt und der Spiegel war gesprungen.
Ratlos und von Grauen erfüllt betrachtete Yvonne die Verwüstung. Etwas war geschehen. Sie hatte nicht nur schlecht geträumt – sie hatte wirklich in das Auge des Teufels geblickt.
Nun wusste sie also Bescheid: Ravenna war in Gefahr. Sie war das Opfer, sie war die Frau in dem zerlumpten Kleid. Oder etwa nicht? Das Orakel hatte ihr gezeigt, was ihre Schwester durchmachte oder was sie in naher Zukunft erleben würde. Aber wo war sie? Yvonne hatte eindeutig den Platz vor dem Münster erkannt, mit dem Kirchenportal und den windschiefen Fachwerkhäusern im Hintergrund. Etwas war jedoch anders als sonst gewesen, und deshalb war sie sich nicht sicher, wen die Person in ihrer Vision nun wirklich darstellte. Die Frau schwebte jedenfalls in tödlicher Gefahr – so viel stand fest.
Als sie eine Turmuhr schlagen hörte, raffte sie sich auf. Die dunkelste Stunde war lange vorüber und die Nacht neigte sich ihrem Ende zu. Yvonne zog die Campingmatte aus dem Fensterspalt, kratzte das Kerzenwachs vom Boden, warf die Stummel in die Schale und brachte alles hinunter in den Müll. Beim Anblick der verwaisten Katzenjungen traten ihr von neuem die Tränen in die Augen.
»Ich werde gut auf euch aufpassen«, versprach sie und streichelte die verschlafenen Kleinen. »Niemand wird euch etwas tun. Das schwöre ich.«
Nachdem sie die Kätzchen versorgt hatte, bettete sie Merle behutsam in einen Schuhkarton und deckte den kleinen Leichnam mit einem Tuch zu. Bei Sonnenaufgang würde sie einen Platz am Flussufer suchen und ihre Katze begraben. Sie füllte ein Glas mit Leitungswasser, setzte sich aufs Fensterbrett und zog die Füße an ihren Körper.
Bis zur Dämmerung saß sie so da, trank das Wasser in kleinen Schlucken und dachte über die Eindrücke nach, die ihr von dieser Nacht geblieben waren. Waren die dunklen Magier also tatsächlich stärker? Solche Gerüchte hatte sie oft gehört, aber daran geglaubt hatte sie nie. Sie hatte sich ganz bewusst dazu entschieden, eine weiße Hexe zu sein. Eine von den Guten, dachte sie und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Orianas Teufelsauge hatte ihr jedoch wesentlich mehr enthüllt als jedes Spiegelorakel, an dem sie sich versucht hatte. Und ihre Schutzmagie und der Dämonenbann, mit dem sie Ravennas Wohnung gleich nach ihrem Einzug gesichert hatte, hatten sie nicht vor Oriana und ihren Machenschaften bewahrt. Sie hatten nicht verhindert, dass Merle in dieser Nacht sterben musste.
Yvonne ließ den Kopf gegen den Fensterrahmen sinken. Langsam rötete sich der Himmel über der Stadt. Sobald die Zeiger der Küchenuhr acht Uhr zeigten, sprang sie vom Fensterbrett, rief in der Bibliothek an und meldete sich krank.
Das Zeitalter des Hexenwahns
Odilienberg im Jahr 1253
In Ravennas Traum donnerte es, es war ein lang anhaltendes, bedrohliches Geräusch, das immer näher kam. Schlaftrunken schreckte sie hoch und stellte fest, dass das Poltern von der Treppe vor ihrem Zimmer kam. Mädchenfüße trampelten auf den Stiegen.
»Auf, auf! Wacht auf! Sammelt euch in der Halle! Es ist etwas vorgefallen!« Der Ruf drang aus dem Untergeschoss zu ihr herauf.
Benommen rollte sie aus dem Bett, wusch sich mit kaltem Wasser und fuhr sich mit dem Holzkamm durch die Haare. Ungeduldig fingerte sie an den Bändern des Kleides herum. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich fertig war.
Auf der Treppe schloss sie sich dem Strom der jungen Magierinnen an, der sie in einen großen Saal mit Bogenfenstern und Kronleuchtern trug. Vorne am Pult stand Mavelle. Die zierliche Elfe war blasser als gewöhnlich und ihr Leib wölbte sich unter dem Gewand zu einem Spitzbauch. Das wird bestimmt ein Junge, dachte Ravenna.
»Hört alle her! Alle herhören!«, rief Mavelle und das Gemurmel verstummte. »König Constantin hat heute unerwartet eine Sitzung einberufen, zu der die Sieben erwartet werden.« Sogleich schwollen die Stimmen wieder an. Die Mädchen
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