Die Hexen - Roman
Sie wagte kaum, zur Leiche des Marquis zu blicken. Leblos lag Cedric unter den alten Apfelbäumen. Im Augenblick des Todes war sein Haar schlohweiß geworden.
Als sie Stimmen hörte, hob sie den Kopf. Burg Hœnkungsberg lag wieder in alter Pracht vor ihr. Aufgeregt rannten die Wachen die Wehrgänge entlang und schrien sich Warnungen zu. Hilflos deuteten sie auf ihren Herrn, der ermordet in seinem Blut lag. Das Gesinde drängte sich auf der Zugbrücke, die über den Bärengraben führte, Mägde, Zofen, Küchenjungen und Wäscherinnen starrten ängstlich zur Marquise und dem schwarzen Ritter herüber.
»Du wirst die Leute gleich beruhigen und ihnen sagen, dass ein neuer Herr auf der Festung Einzug hält, nicht wahr, Elinor?« Wie man einen treuen Hund liebkoste, so streichelte der Fremde ihr über Schleier und Haar. »Sollen sie ruhig denken, dass wir heimlich ein Stelldichein vereinbart hatten, während der Marquis im Feld war und gegen den Feind kämpfte. Heute Nacht kehrte er jedoch früher als erwartet zurück und überraschte uns im Garten. Nun – wie es scheint, hat der Stärkere sich durchgesetzt.«
Mit der Fingerspitze nahm der Fremde ein wenig Blut auf, das in den Rinnen des Pentagramms stand, und kostete davon, als wäre es das Blut eines an Mittwinter geschlachteten Stiers. Bei diesem Anblick verstummten die aufgebrachten Schreie der Leute. Stille senkte sich über den Burggarten.
»Ich weiß, dass du solche Geschichten liebst. Und nun sei so gut und stell mich meinen zukünftigen Gefolgsleuten vor«, verlangte der Fremde.
Mit aller Macht kämpfte Elinor gegen die Übelkeit an, die sie in Wellen überkam. »Und wenn sie mich fragen, wie Ihr genannt werdet: Was soll ich sagen?«, flüsterte sie mit rauer Stimme.
Der Fremde lächelte. »Du wirst mich mit meinem vollen Titel ansprechen: Marquis Beliar de Hœnkungsberg, Markgraf auf Burg Hohenkönigsstein. Und du wirst meine schöne Marquise sein.«
Hexentanz
Straßburg im Jahr 2011
Rasch erklomm Ravenna die Stiegen zum obersten Stock. Das Treppenhaus mit den bunten Glasfenstern und den Holzdielen war ihr seit langem nicht mehr geheuer.
Als sie auf der obersten Stufe angelangt war, hielt sie inne und starrte mit pochendem Puls in den Treppenschacht. Aber da war niemand, sie wurde nicht verfolgt, auch wenn sie sich einbildete, schwere Schritte und ein Schnaufen zu hören. Sie war allein.
Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild in der Scheibe des Dachfensters. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zu der jungen Frau hinauf, die ihr aus der sternhellen Nacht heraus entgegensah. Dunkle, störrische Locken umrahmten ein blasses Gesicht. Ihre Augen waren grau und blickten ernst und nachdenklich auf die Welt. Ihren Mund hatte sie immer gemocht, die Lippen waren fest und voll, fast wie bei einer Skulptur. Entschlossen, hatte einmal jemand zu ihr gesagt, du siehst immer so entschlossen aus. Sie trug kein Make-up, denn sie kam gerade von der Bauhütte, und ihre Haare waren voller Staub. Die kräftigen Hände und Arme und die durchtrainierten Schultern zeugten von der Arbeit an der Kathedrale. Sie konnte gut mit Krönel und Setzhammer umgehen und ihre Kollegen lobten sie oft für ihre Geschicklichkeit.
Zäh wirkte sie, eine Steinmetzin eben, die bei Wind und Wetter über die Gerüste kletterte und Sandsteinblöcke versetzte. Niemand konnte sich vorstellen, was in jener Nacht aus ihr geworden war.
Ob er mich in dieser spiegelnden Fensterscheibe beobachtet hat, so wie ich mich jetzt sehe?, fragte sie sich. Ob der Kerl hier gewartet hat, während ich die Treppe heraufkam, arglos und nicht ahnend, dass eine einzige Erfahrung ein Leben in ein Davor und Danach teilen konnte?
Hastig wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab und kramte in der Tasche nach dem Schlüssel. Im Winkel unter dem Fenster glaubte sie wieder den Schatten des Einbrechers zu sehen. Sie wagte nicht, einen Blick in die dunkle Ecke zu werfen. Sie hatte Angst, aus dem Trugbild könnte Wirklichkeit werden. Dann stand er wieder hinter ihr und keuchte ihr seine Drohungen ins Ohr. Dann spürte sie erneut die kalte Klinge am Kinn und den derben Stoß, der sie vorwärts stolpern ließ, bis sie in ihrer eigenen Küche auf die Knie fiel.
Tränen füllten ihre Augen, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Gleichzeitig hasste sie sich dafür, denn sie wollte dieser Schwäche nicht nachgeben, wollte sich nicht in ein wimmerndes Bündel ohne Selbstwertgefühl verwandeln. Doch
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