Die Hexen - Roman
nicht genau das, was der Einbrecher in ihrer Wohnung getan hatte? Sein Verbrechen war so absonderlich und beängstigend gewesen, dass die Erinnerung an den Vorfall schlimmer war als die eigentliche Tat. Daran erkannte sie, dass er tatsächlich einen Fluch gewirkt hatte.
Esmee fuhr fort, ihr die Wirkungsweise des magischen Stroms zu beschreiben, doch Ravenna hörte kaum noch zu. Die Bilder aus ihrer nächtlichen Küche tauchten wieder in ihr auf, es war schlimmer als je zuvor. Nach dem anfänglichen Schrecken über ihren Sturz durch das Hexentor hatte sie begonnen, sich auf dem Odilienberg sicher zu fühlen – trotz der Bedrohung durch den Marquis. Der Unbekannte, der sie an dem Abend überfallen hatte, war unendlich weit fort. An seine Stelle war Lucian getreten, ein ernsthafter, junger Ritter, der ihr versprach, dass er sie niemals im Stich lassen würde. Woher wusste er, dass es genau diese Art von Beistand war, die sie in ihrer Verfassung brauchte?
Ravenna nagte mit den Zähnen an der Unterlippe.
Mittlerweile war Esmee in ihren Ausführungen bei dem Verwendungszweck ihres Siegels angelangt. Ravenna nickte tapfer, doch dann hielt sie es nicht länger aus. Tränen rollten ihr über das Gesicht, so aufgewühlt war sie. Sie rang vergeblich um Beherrschung. Beim Gedanken an den morgigen Tag erschreckte sie nicht einmal so sehr die Möglichkeit, dass der Marquis als Sieger aus dem Turnier hervorging. Viel schlimmer war die Vorstellung, dass tatsächlich Lucian ihr Gefährte werden könnte.
Wann hatte sie das letzte Mal solche Gefühle für jemanden empfunden? Ihr Herz hüpfte, wenn sein Name fiel, und sie wurde abwechselnd blass und rot, wenn er denselben Raum betrat. In ihren Ohren klang seine Stimme unglaublich aufregend, sein Lachen aber war unwiderstehlich. Insgeheim malte sie sich aus, wie er aussah, wenn er morgens schlief, welche Bücher er in ihrer Welt lesen würde, welche Art von Musik er bevorzugt hätte und wie es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen.
Und dann würde sie ihm gestehen müssen, dass sie es nicht ertrug, berührt zu werden, dass sie sich wertlos und schuldig fühlte. Der Einbruch in ihre Wohnung würde immer zwischen ihnen stehen, denn sie war sicher, dass sie niemals den Mut aufbringen würde, ihm davon zu erzählen.
»Was geschieht eigentlich, wenn der Sieger des Turniers mich nicht will?«, stieß sie hervor. »Ich meine … kann … kann ich euch dann überhaupt helfen?«
Esmees Lachen perlte wie Elfenmusik. »Das wird ganz gewiss nicht geschehen«, erklärte sie. »Deswegen bist du doch heute hier. Wenn du gelernt hast, was ich dir zu zeigen habe, wirst du morgen so unwiderstehlich sein, dass jeder Reiter bei dem Turnier bis zum Äußersten gehen wird, um dir zu gefallen.«
Ravenna grinste schief. Ich und unwiderstehlich?, dachte sie. Das wäre dann wohl das erste Mal. Für ihre Kollegen war sie ein guter Kumpel, dem man auf die Schulter klopfte und nach Feierabend ein Bier anbot. Anderen Männern fiel sie kaum auf, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit mit gesenktem Kopf und klobigen Sicherheitsschuhen durch die Stadt stürmte. Und falls wider Erwarten doch jemand Interesse an ihr bekundete, fand sie todsicher einen Weg, den Betreffenden aus ihrem Leben zu vergraulen.
Dennoch ließ sie zu, dass Esmee ihr zeigte, wie sie das grüne Festgewand zu schnüren und den passenden Schleier anzulegen hatte. Die Magierin flocht ihr Bänder ins Haar. Dann gab sie Ravenna den Silberspiegel, der von ihrem Gürtel hing.
Es war seltsam – nun sah sie ganz und gar wie eine Frau aus dem Mittelalter aus. Die Verwandlung war vollkommen, von den Lederschuhen bis zu der aufwendigen Frisur. Nichts erinnerte mehr an ihre Erscheinung in Reitstiefeln und Regenjacke, als sie auf dem Odilienberg aufgetaucht war.
»Und das genügt, um die Ritter zu beeindrucken?«, fragte sie und drehte den Kopf vor dem Spiegel. Ihre Haare glänzten wie frische Kastanien.
»Nun, nicht ganz«, schmunzelte Esmee. »Es wird auch etwas Magie im Spiel sein. Morgen hilft dir Arletta beim Ankleiden. Du nimmst ein Bad und musst schon in aller Frühe fertig sein, denn vor dem Turnier wird der junge Ritter beerdigt. Marlon.«
Ravenna ließ den Spiegel sinken. Vor ihren Augen erschien wieder der trostlose Anblick in Constantins Burghof: der Karren, der mit seiner blutigen Last im Regen stand. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass am morgigen Tag junge Männer ihr Leben aufs Spiel setzten, um sich in ihren Augen hervorzutun.
»Kann
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