Die Hexen - Roman
ich nicht einfach einen der Teilnehmer als meinen Gefährten bestimmen?«, fragte sie kleinlaut. »König Constantin soll den Ritter auswählen, der an seiner Tafel sitzen soll, und ich werde sein Schwert weihen, ganz gleich, wer es ist. Dann fließt kein Blut, niemand wird verletzt und alle sind zufrieden.«
Esmees Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst. »Die Krieger, die in Constantins Burg leben, wissen um die Gefahren, denen sie im Dienst des Königs ausgesetzt sind. Das Turnier bietet ihnen die Möglichkeit, ihr Können auf die Probe zu stellen. Es ist ihr Weg, uns ihre Wertschätzung zu beweisen, ehe wir sie zu unseren Gefährten machen. Die magische Gabe verdient man sich nicht, indem man sich vor dem Leben fürchtet und sich in einem Schneckenhaus verkriecht, Ravenna.«
Angespannt kaute die Getadelte an ihrem Fingernagel. Diesen Satz hörte sie nun schon zum wiederholten Mal, seit sie auf den Odilienberg gekommen war. War ihr Zögern denn wirklich so offensichtlich?
»Also gut«, seufzte sie. »Was muss ich tun, um den Sieger des Turniers zu überzeugen?«
Esmee nahm die rote Hülle, die Darlach ihr gebracht hatte, öffnete sie und zog einen Gürtel heraus. Es war feinste Goldschmiedekunst, von den Händen einer Meisterin geschaffen. Der Gürtel bestand aus einem silbernen Gewebe, das mit weißen und grünen Steinen besetzt war. Wie blühende Apfelzweige rankten sie sich um die Schärpe. Auf einer Seite hing ein Gurt herab, an dem sich eine leere Scheide befand – der Platz für das Hexenmesser. Die Schließe erkannte Ravenna sofort wieder: Es handelte sich um das dritte Siegel, den Silberring mit der Apfelblüte in der Mitte.
»Sieh mich an«, forderte Esmee sie auf. »Schau genau hin, was passiert.« Mit diesen Worten legte sie sich den Gürtel um die Hüfte. Als sie das lose Ende mit dem Siegel verhakte, begannen die Steine zu schillern.
Überrascht sog Ravenna den Atem ein. Esmee war schön, vielleicht war sie sogar die Schönste der Magierinnen, von denen jede eine besondere Ausstrahlung besaß. Doch plötzlich war es, als hätte man sie gegen eine Fee aus einer Zauberwelt ausgetauscht: Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie das Laub der Blutbuche, ihre Haut schimmerte wie Seide und ihre Augen waren groß und geheimnisvoll wie Schatten in einem Brunnen.
Der Gürtel klickte, als sie ihn zurück auf die Werkbank legte. »Na?«, fragte sie. »Was sagst du?«
»Das … das war unglaublich!«, stieß Ravenna hervor. Sie musste blinzeln, wenn sie Esmee jetzt ansah: Es war dieselbe Frau, immer noch schön, aber irgendwie – gewöhnlich. »Wie geht das? Ich meine … was ist der Trick dabei?«
Esmee schüttelte den Kopf. »Es ist kein Trick, sondern Magie. Das Siegel verstärkt den Strom, der ohnehin schon durch dich fließt. In Verbindung mit dem Gürtel macht es deine besondere Gabe sichtbar. Den Rest erledigt die Einbildungskraft des Betrachters.«
»Und dein Ritter … Darlach. Weiß er Bescheid darüber?«
Diesmal lachte Esmee schallend. »Aber natürlich tut er das. Oder glaubst du etwa, ich hätte ihn verhext, damit er mir blind hinterherläuft? Er mag mich mit und ohne diese Schärpe. Er mochte mich sogar, als ich an einem faulen Zahn litt und meine Backe dick wie eine Birne anschwoll.« Sie ließ den Gürtel wieder in die Hülle gleiten und gab Ravenna das Säckchen. »Trage diesen Gürtel morgen beim Turnier. Für das einfache Volk und die geladenen Gäste wirst du die Maikönigin sein und das ist gut und richtig, denn schließlich kommen die Leute, um etwas zu erleben. Der Sieger aber wird erkennen, was euch wirklich verbindet.«
Nachdenklich wog Ravenna das Säckchen in der Hand. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. »Ich würde gerne mit Lucian sprechen, bevor das Turnier beginnt. Ich … muss ihm noch etwas sagen. Es ist sehr wichtig.«
Esmee nickte verständnisvoll. »Heute Nachmittag wird dazu Gelegenheit sein«, erwiderte sie. »Dann reitet Darlach ins Tal, denn von heute Abend an versieht Neveres Gefährte Dienst am Tor. Ich werde ihm Bescheid sagen, dann kannst du ihn begleiten. Derzeit sind Lucian und die anderen jungen Ritter ohnehin zu beschäftigt, um dich zu empfangen, denn sie bereiten den Turnierplatz vor. Jetzt komm dort hinüber ans Fenster, denn ich muss dir zeigen, was bei der Schwertleite zu tun ist.«
Sie nahm das Schwert mit dem dunklen Griff und drückte Ravenna die Waffe in die Hand. Sie war überraschend schwer und auf der Klinge zeichnete sich ein Muster aus
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