Die Hexen - Roman
Ritter sank vor der dunkelhaarigen Zauberin auf ein Knie, überreichte ihr das Kissen, und sie küsste ihn zum Dank.
Wie sklavisch die Ritter den Hexen ergeben sind … Lynettes böse Worte hallten in Ravenna nach. Und es stimmte: Sie hatte noch nie einen Mann getroffen, der seiner Geliebten so hingebungsvoll diente. Gleichzeitig wirkte Darlach aufrecht und gelassen, ein freier Mann, der Herr über sich selbst war. Beim Hinausgehen schenkte er Ravenna ein Lächeln.
Eine Welle der Angst überkam sie. Morgen war der Tag des Turniers, der Tag, an dem sich die Zukunft des Hexenkonvents entscheiden würde. Alles hing von ihr ab, doch sie fürchtete, dass sie diese Prüfung nicht bestehen würde.
»Ravenna.« Sanft legte Esmee ihr die Hand auf den Arm. »Mein armes Kind, glaubst du, ich weiß nicht, wie sehr du dich fürchtest? Mir ging es nicht anders, als ich in deinem Alter war. Ich dachte damals, ich würde nie hinter das Geheimnis der Siegel kommen und begreifen, wie man sie benutzt. Du musst wissen, dass der Strom der Magie eines Tages völlig unerwartet zu fließen begann. Niemand hatte mit diesem Ereignis gerechnet und es dauerte lange, ehe die Druiden und Magierinnen der damaligen Zeit begriffen, was geschehen war. Seitdem gibt es einige Männer und Frauen, die an diesen Strom angeschlossen sind. Er fließt sozusagen durch sie hindurch. Wir nennen es die Gabe.«
Bei diesen Worten blickte Esmee sie forschend an. Ravenna nickte wie eine gehorsame Schülerin, doch es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wovon die Zauberin sprach. Noch schwerer fiel es ihr, zu glauben, dass sie selbst von diesem Fluss der Magie durchströmt wurde. Woher kam dieser Strom? Was hatte ihn ausgelöst? Und wieso traf er ausgerechnet sie?
Vergeblich erwartete sie eine Antwort auf diese Fragen.
»Wir haben lange Zeit erforscht, welchem Zweck der Strom dient«, erklärte Esmee. »Alles, was wir feststellen konnten, ist, dass er an einem Punkt entspringt, den wir den Pol des Tages nennen.« Ihre Hand deutete zur Decke. Gemeint war jedoch der Himmel dahinter, begriff Ravenna nach einem kurzen Augenblick. »Und er versiegt an einem entgegengesetzten Punkt.«
»Dem Pol der Nacht«, mutmaßte Ravenna.
Die Zauberin nickte. »Alles dazwischen liegt im Spannungsfeld des Stroms. Mit der Zeit begannen wir den Fluss der Magie zu erforschen und seine Wirkungsweise besser zu verstehen. Die Siegel wurden entwickelt, um den Strom sichtbar zu machen und ihn zu lenken. Bald fanden wir heraus, dass das nur zu bestimmten Zeiten im Jahr möglich ist.«
Ravenna nickte. Von ihrer Schwester wusste sie, dass die Hexen sich an einen strengen Zeitplan hielten, der an die Sonnenstände und die Mondphasen gekoppelt war.
»Zwei große Gefahren sehen wir: Zum einen, dass die Magie versiegt. Berichten zufolge herrschte ein Zeitalter der Dunkelheit auf der Welt, bevor der Strom zu fließen begann. Das Zeitalter der Drachen wird es von manchen genannt und nicht wenige Hexen befürchten, dass es wiederkehrt, sobald die Magie nicht mehr fließt. Zum anderen wurde klar, dass nicht alle Menschen gleichermaßen an der Gabe teilhaben. Bald gab es Neider, dunkle Zauberer, die einen Teil der Magie für sich abzweigen wollten«, fuhr Esmee fort. »Da sie keine natürliche Gabe besitzen, versuchen sie es mit Gewalt. Es gelingt ihnen, indem sie ein Opfer bringen, denn jedes Mal, wenn irgendwo Schmerz oder Leid entstehen, scheint ein Rinnsal in diese Richtung zu fließen. Der Strom fördert also auch die Heilergabe, doch darüber wird dir Nevere mehr erzählen.«
»Was machen die dunklen Zauberer denn mit … mit dem Strom?«, wollte Ravenna wissen. Sie fand es unbegreiflich, wie jemand von Magie sprechen konnte, als handle es sich um eine Art elektrischen Fluss zwischen Himmel und Erde. Eine anhaltende Blitzentladung zwischen zwei magischen Polen.
»Magie ist formbar.« Esmee lächelte. »Wenn man mit ihr umzugehen versteht, lässt sie sich in viele nützliche Dinge verwandeln. Jede von uns Sieben hat eine andere Gabe und kann daher unterschiedliche Dinge tun. Die dunklen Zauberer hingegen haben nur eines im Sinn: Sie wollen Macht. Der Strom dient ihnen dazu, andere zu beherrschen. Mit seiner Hilfe dringen sie in den Geist ihrer Opfer ein und tyrannisieren sie, bis sie zugrunde gehen oder zu ihren Sklaven werden. Ob es Lebende oder Tote sind, spielt dabei keine Rolle.«
Unwillkürlich schlang Ravenna schützend die Arme um den Körper. In ihren Geist eindringen – war das
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