Die Hexen - Roman
Ravenna den Kopf. Das Bild des klatschnassen Mädchens, das schlotternd vor Angst aus dem Brunnen stieg und zum Wohngebäude rannte, holte sie wieder ein. »Du hast doch nichts Schlimmes getan. Lynette hat den Schadenszauber gewirkt, deshalb musste sie auch den Konvent verlassen.«
Florences Augen schwammen in Tränen. »Es tut mir so leid. Ich stamme aus dem Loiretal und habe fünf Geschwister. Meine Eltern haben mich weggegeben, weil sie nicht noch ein hungriges Maul stopfen konnten. Sie schickten mich zum Odilienberg, weil ich das Gesicht habe. Manchmal kann ich in die Zukunft sehen und das macht den Menschen Angst. Niemand bei uns will eine Hexe heiraten. Lynette war die Erste, der ich mich anvertrauen konnte. Jetzt weiß ich auch, dass sie falsch gehandelt hat. Wir waren sehr gemein zu Euch.«
»Halb so wild«, meinte Ravenna. »Das verkrafte ich schon. Und hör bitte auf, mich mit Ihr und Euch anzureden, sonst komme ich mir vor wie meine eigene Großmutter.« Es gab also durchaus noch mehr Schülerinnen im Konvent, die sich vor ihrer Aufgabe als Hexe fürchteten, stellte sie fest. Armes Ding!, dachte sie. Bei Lynette war das Mädchen leider an die Falsche geraten.
Florence wollte von ihren tröstenden Worten nichts wissen. Ernsthaft schüttelte sie den Kopf.
»Ihr nehmt die Sache mit der dunklen Magie zu sehr auf die leichte Schulter«, warnte sie. »Eine Schwarzmagierin wie Lynette ist viel gefährlicher als Ihr glaubt. Seht her!«
Sie hob den Becher und drehte ihn, so dass der Rand im Licht funkelte.
»Ich könnte aus diesem Pokal einen heiligen Gral machen – oder ein Gefäß, in dem sich jeder Tropfen Wein in Gift verwandelt. Niemand würde etwas merken, ehe es zu spät ist. Gut und Böse liegen so dicht beieinander wie diese beiden Schmucksteine hier. Man sagt, sie kamen zur selben Zeit in die Welt.«
Plötzlich rauschte Ravennas Blut schneller durch die Adern. Herausfordernd stützte sie sich auf die Werkbank. »Und weiter, Florence? Was willst du mir damit sagen? Du willst mich vor etwas warnen, richtig? Worum geht es? Spuck dein Geheimnis aus, sonst hast du deine Buße ganz umsonst getan. Dann kannst du dir das nächste Mal gleich den Schädel kahlrasieren.«
Ihre forsche, direkte Art durchbrach den Zauber des silbernen Gürtels und der grünen Maibänder in ihrem Haar. Florence sah sie völlig erschrocken an. Dann lehnte sie sich über den Tisch und senkte die Stimme, so dass nur Ravenna ihre Worte hören konnte.
»Sagt, habt Ihr Lynette gestern nach dem Brunnenritual noch einmal gesehen?«
Ravenna nickte. »Sie saß auf meinem Bett und quatschte mich eine halbe Stunde lang voll, ehe sie endlich abgereist ist«, bestätigte sie.
Florence wurde weiß wie ein Laken. Da war sie wieder, die abwehrende Geste, die diesmal mit beiden Armen ausgeführt wurde. »Auf Eurem Bett! Und da seid Ihr heute hier, gesund und munter? Wahrlich, Ihr seid die größte Zauberin von uns allen! Die Sieben taten gut daran, Euch als Melisendes Nachfolgerin zu wählen«, keuchte das Mädchen. Sie verbeugte sich hastig.
Nichts verblüffte Ravenna mehr als dieses Verhalten. »Ich verstehe kein Wort«, gestand sie.
»Lynette besaß einen Salamander«, erklärte Florence, als sie die Verwirrung ihrer Gesprächspartnerin bemerkte. »Und ich weiß, dass sie ihn nicht mehr hatte, als sie gestern den Konvent verließ.«
»Einen Salamander?«, wiederholte Ravenna. Ihre Ratlosigkeit wuchs. »Na und? Erwartest du vielleicht, ich schlafe schlecht, nur weil ein Lurch durch mein Zimmer kriecht? Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden. Da kommt schon mal irgendwelches Getier ins Haus. «
Florence machte große Augen. Furchtsam wollte sie wieder an die Arbeit gehen, aber Ravenna packte sie am Handgelenk. »Was ist hier eigentlich los? Was wird hier gespielt? Willst du mir nicht endlich verraten, was Lynette gegen mich hat?«
Als Florence sie wieder ansah, wirkte sie gequält. »Hat sie Euch verraten, wohin sie als N ächstes gehen wollte? Ja? Mir hat sie es auch gesagt – zu Herrin Elinor. Ihr solltet wissen, dass Elinor mittlerweile Marquise de Hœnkungsberg ist. An Yule hat sie Beliar geheiratet, als ihren zweiten Ehemann. Niemand weiß, ob es freiwillig geschah, doch wir bezweifeln es sehr. Denn Beliar ist der leibhaftige Teufel!«
Die letzten Worte hatte Florence mit solcher Abscheu hervorgestoßen, dass die Mädchen an den anderen Werkbänken aufmerksam wurden. Sie kamen herbei und drängten sich um den Tisch mit dem
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