Die Hexen - Roman
dieses Buch trug sie alles ein, was ihr auf ihrer Suche nach den Geheimnissen der Magie begegnete, einer Suche, die nun schon etliche Jahre andauerte.
Wie sollte sie in Worte fassen, was heute in der Villa an der Place des Meuniers geschehen war? Nachdenklich betrachtete sie den geschwollenen Handballen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ein außerordentliches Geschenk erhalten zu haben, ein Geschenk magischer Natur. Sie hatte einen Blick durch ein Tor getan. So hatte es der Hexenbanner ausgedrückt: ein magisches Tor.
Gedankenverloren machte sie Platz, als ihr die Bedienung Besteck und einen dampfenden Teller brachte. Den ersten Bissen kaute Yvonne mit geschlossenen Augen. Nach dem langen Fasten schmeckte das Omelette unglaublich köstlich. Dann schlug sie das Büchlein auf und fing an zu schreiben.
Die Maikönigin
Odilienberg im Jahr 1253
Diesmal war Ravenna die Erste im Schulungsraum. Noch vor ihrer Ausbilderin traf sie in dem Saal mit den hohen Bogenfenstern ein, den ihr eines der Mädchen als Raum der dritten Magierin beschrieben hatte. Unruhig strich sie an den Werkbänken entlang und betrachtete die halbfertigen Stücke, die dort lagen. Offenbar beherrschte Esmee die Kunst des Goldschmiedens und würde sie in dieses Handwerk einweisen.
Ravenna freute sich auf die Lehrstunde. Mit den Händen zu arbeiten und aus Werkstoffen Dinge zu formen, lag ihr weit mehr als trockenes Auswendiglernen. Neben dem Pferdestall in Ottrott hatte ihr Vater eine kleine Schmiede eingerichtet, wo er Sensen dengelte, Ersatzteile für die landwirtschaftlichen Maschinen fertigte und ab und zu auch ein Hufeisen zurechtbog, das der Wallach beim Sprung über einen Graben verloren hatte. Oft hatte sie mit ihm zusammengearbeitet und ihm beim Hämmern und Schweißen über die Schulter geschaut.
»Oh, du bist schon da!«, sagte Esmee beim Eintreten. »Das ist gut, denn dann können wir gleich anfangen.«
Ravenna beobachtete verstohlen, wie die Magierin von Beltaine die dunklen Locken im Nacken hochsteckte. Die schaukelnden Ohrringe verliehen ihr einen verwegenen Ausdruck und das merkwürdige Schillern der Haut erinnerte sie an eine Meerjungfrau. Oder eine irische Fee.
Die Zauberin lächelte, als sie merkte, dass sie beobachtet wurde. »Komm, Ravenna, heute weise ich dich in die Kunst der Verführung ein«, sagte sie.
Ravenna wurde rot bis unter die Haarwurzeln. »Aber ich … ich dachte …« Ihr Blick glitt über die Ansammlung an Hämmerchen und Zangen, den Golddraht, die verschiedenen Verschlüsse, die halbfertigen Spangen, Gewandnadeln und Gürtelschnallen.
Esmee lachte. »Die Herstellung der Amulette ist etwas für geschickte Finger im dritten Jahr der Ausbildung. Nein, du sollst heute lernen, wie man Gegenstände bespricht, damit sie eine besondere Wirkung auf den Betrachter entfalten. Gib mir bitte deine Halskette.«
Langsam öffnete Ravenna den Verschluss. Esmee hielt das Triskel ans Fenster, drehte es im Licht hin und her und bog es schließlich zwischen den Fingern. »Gut gemeint und schlecht gemacht«, urteilte sie. »Aber es spielt keine Rolle, wie sorgfältig der Kunstschmied war. Wichtig ist nur die Absicht, die mit dem Gegenstand verbunden ist.«
Ravenna nickte. »Das Triskel war als Schutzzauber gedacht«, sagte sie.
Esmee lächelte. »Wenn du die heutige Lektion gelernt hast, kannst du sogar diesen Anhänger in einen Gegenstand voll magischer Macht verwandeln«, erklärte sie, während sie Ravenna das Triskel zurückgab.
Ravenna schluckte. Der Bannkreis fiel ihr wieder ein, den ihre Schwester mit ihren Freundinnen um die Dachwohnung hatte ziehen wollen. Endlich begriff sie den tieferen Sinn hinter Yvonnes Absichten. Ihre Schwester meinte es nur gut mit ihr, doch sie hatte sich unmöglich benommen. Sie senkte den Kopf und fingerte absichtlich ungeschickt an dem Verschluss herum, damit Esmee den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht sah.
Sie hatte schlecht geschlafen. Anfangs hatte sie von Lucian geträumt, doch sein Gesicht war immer wieder verblasst, um einem schwarzen Reiter mit loderndem Helmbusch Platz zu machen. Sogar im Traum war das Gefühl von einer drohenden Gefahr so mächtig, dass Ravenna sich unruhig hin und her warf. Als sie dann am Morgen auf dem Boden erwachte, fühlte sie sich zerschlagener als am Abend zuvor.
Esmee öffnete die Tür und rief nach ihrem Ritter. Als Darlach eintrat, trug er ein Kissen, auf dem drei Gegenstände lagen: ein grünes Kleid, eine Hülle aus rotem Samt und ein Schwert. Der
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