Die Hexen - Roman
nicht, den freien Fall zu bremsen. Kurz vor dem Aufprall riss sie die Augen auf.
Sie lag wieder in dem abgedunkelten Meditationsraum mit dem Zimmerbrunnen und dem weißen Steinkreis. Ihre Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Ihre Bluse war schweißgetränkt und in der Bauchhöhle kribbelte es, als würde sie sich immer noch im freien Fall befinden.
Zittrig setzte sie sich auf. So echt, wie die Matte, der Parkettboden und ihre lackierten Zehennägel waren, so wirklichkeitsgetreu war auch ihr Aufenthalt im Verlies des Hexenturms gewesen. Sie drehte sich um. Corbeau kauerte hinter ihr auf einem Hocker. Die Ellenbogen ruhten auf den Knien und die aneinandergepressten Finger zeigten nach unten. Sein Gesicht wirkte düster und glänzte vor Schweiß.
»Kann ich ein Glas Wasser haben?«, fragte Yvonne heiser.
Schweigend erhob der Doktor sich und verließ den Raum. Sie nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln. Als sie sich aufstützte, durchzuckte sie ein Schmerz, und sie fuhr zusammen. Betäubt starrte sie auf ihre Hand. Auf dem Ballen zeigte sich noch immer der blaurote Abdruck von Remis Zähnen.
Ich war dort!, dachte Yvonne entsetzt. Ich war wirklich dort. Aber wie ist so etwas möglich? Und was wird nun aus dem armen Jungen? Und aus der Frau, durch deren Augen ich den Schrecken erlebt habe?
Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie kaum den Reißverschluss der hochhackigen Stiefel zubekam. Als der Therapeut zurückkehrte, bemühte sie sich, ihre Aufregung zu verbergen. Sie nahm ihm das kalte Glas aus der Hand und trank gierig.
Endlich brach Corbeau sein Schweigen. »Sie besitzen eine außerordentlich starke Begabung für Hypnose. Es war mir nicht möglich, Sie zurückzuholen.« Seine Überheblichkeit war verschwunden, er wirkte tief beeindruckt.
Vielleicht liegt es auch an zu wenig Schlaf und zu viel halluzinogenen Drogen, dachte Yvonne. Locker ballte sie die Faust, bis die Finger die schmerzende Stelle berührten. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über den Mund. »Wie lange war ich denn weg?«
»Über drei Stunden. Sie lagen regungslos da, als hätten Sie Ihren Körper verlassen, und Ihre Gliedmaßen waren eiskalt. Ich dachte schon, ich müsste den Notarzt holen. Aber dann sprachen Sie … Satzfetzen in einer merkwürdigen Sprache. Einer Sprache, die ich schon lange nicht mehr gehört habe.«
Da war er wieder, der lauernde Blick. Yvonne hob ihre Jeansjacke auf und sah sich nach ihrer Handtasche um. »Drei Stunden? Dann wird es höchste Zeit für mich. Ich muss gehen.«
Beunruhigt folgte Corbeau ihr durch die Praxisräume. Er erinnerte sie an einen Wolf, der Witterung aufgenommen hatte. »Ich habe da einige Studenten, die sich mit Trance und Hypnose befassen. Wenn Sie bereit wären, sich ihnen für eine Sitzung zur Verfügung …«
»Nein.« Bloß nicht, dachte Yvonne. Nie wieder wollte sie einen Blick in dieses Turmverlies werfen und fühlen, was diese arme Frau und der Junge durchgemacht hatten. Oder sie selbst in einem früheren Leben.
Doktor Corbeau folgte ihr ins Besprechungszimmer. Sie schnappte sich die Tasche, die noch auf dem Stuhl lag. Wenn sie Ravenna wiedergefunden hatte, würde sie ihr dringend raten, sich einen anderen Psychotherapeuten zu suchen, am besten eine verständnisvolle, einfühlsame Frau.
»Sie müssen nicht viel tun.« Corbeau ließ nicht locker. »Erzählen Sie meinen Studenten von dem Erlebnis heute. Anschließend stellen Sie sich für eine Hypnose zur Verfügung. Nur eine oberflächliche Trance, zu Übungszwecken.«
»Ich bin kein Versuchskaninchen. Warum lassen Sie sich nicht selbst hypnotisieren?«
Mit klappernden Absätzen eilte sie die Glastreppe hinunter und betrat das Erdgeschoss. Sie konnte die Villa nicht schnell genug verlassen.
Corbeau folgte ihr in die Halle. Er seufzte resigniert und öffnete ihr die Tür. »Ehe ich es vergesse: Haben Sie eigentlich einen Hinweis auf den Aufenthaltsort Ihrer Schwester erhalten?«, fragte er.
»Wie man es nimmt«, entgegnete Yvonne. »Nicht auf den Ort, sondern auf die Zeit.«
Auf dem Weg zu ihrem Lieblingscafé amüsierte sie sich im Stillen über Corbeaus verdutzte Miene, als er den letzten Satz hörte. Zuletzt hatte sie ihm doch noch eines ausgewischt, nachdem er sie während der Hypnose so kläglich im Stich gelassen hatte. Sie wählte einen Tisch im Schatten unter der gelben Sonnenmarkise, bestellte Eieromelette mit Salat und holte ihr Notizbuch aus der Tasche. Nachdenklich kaute sie auf dem Stift. In
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