Die Hexenadvokatin
schlechten Charakters ist, wenn Ihr endlich auch an Euch und Euer Lebensglück denkt. Glaubt mir: Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird alles gut werden. Habt ein wenig Vertrauen! Nun wollen wir uns aber zur Ruhe begeben und unsere Seelen dem gütigen Herrgott anempfehlen. Der Herr segne Euch, mein Kind.«
Es dauerte jedoch lange, bis Alberta in jener Nacht in den Schlaf fand. Zum ersten Mal in ihrem Leben - und mit entsprechend schlechtem Gewissen - erlaubte sie sich die Überlegung, ob sie ihren Vater eigentlich dafür hasste, dass er sie zu dieser traurigen Komödie, die mittlerweile fast zur Tragödie geworden war, gezwungen hatte. Das Recht der Väter, über ihre Kinder zu bestimmen, galt als von Gott gewollt und heilig - und dennoch …
Als sie gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer fiel, hatte sie sich dazu durchgerungen, Graf Wolfgang Friedrich zugutezuhalten, dass dieser nur das Beste für sie wollte. Und in der Tat, die vergangenen Jahre hatten ihr einige bedeutende Vorteile gebracht:
Eine umfassende Bildung, die sonst keiner Frau zuteilwurde, die Freiheit, sich nach Belieben im Land zu bewegen und sich das passende Betätigungsfeld selbst auszusuchen, eine interessante Beschäftigung im Dunstkreis des Landesherrn, Freunde und Bekannte unter Gelehrten, Aufgaben, die einen »ganzen Mann« erforderten, Reisen ins Ausland, die Anerkennung bedeutender Männer und die Möglichkeit, sich mit ihnen auf Augenhöhe zu unterhalten - und nicht zuletzt das Vertrauen Seiner Durchlaucht.
Sie nahm sich vor, am Morgen einen langen Brief an ihren Liebsten in Italien zu schreiben. Mit diesem Gedanken schloss sie die Augen und fand endlich ein wenig Ruhe.
Auch Pater Winfried lag noch lange wach. Seine anfängliche Müdigkeit war einer tiefen Erschöpfung gewichen, der Schlaf jedoch wollte sich nicht einstellen.
Gedankenschwer wälzte er sich von einer Seite auf die andere, ohne Ruhe zu finden. Zu jeder Stunde hörte er den Nachtwächter, der unermüdlich seine Runden in der Stadt drehte und die Zeit verkündete: »Hört, Ihr Leut’, und lasst Euch sagen …« Gegen vier Uhr war er in einen kurzen Schlummer gesunken, aus dem ihn aber die jahrzehntelange Gewohnheit nach einer halben Stunde erneut wachrief.
Er stand auf, obwohl die Mattigkeit noch wie Blei in seinen Gliedern steckte. Er würde Alberta zum Herzog begleiten.
KAPITEL 60
2. April 1612, beim Herzog in der Residenz
DIE RESIDENZ BEFAND sich in heller Aufregung. Sogar die Torwächter wirkten hektisch und der Trabant, der Alberta im Allgemeinen zu Maximilian eskortierte, war regelrecht verstört.
Auf die Frage nach der Ursache seiner Aufregung stotterte der junge Kerl etwas von einem »schlimmen Unglück«, das sich in der Nacht ereignet habe.
»Ist es etwa der Schwarze Tod, der nun doch in München Einzug gehalten hat?«, erkundigte Alberta sich besorgt.
Alles nur das nicht! Die Gräfin erinnerte sich nur allzu gut an die Berichte über diese Seuche, die in stets wiederkehrenden Wellen das Land veröden ließ. Kein einziges Jahr verging, in dem nicht irgendeine Gegend in Europa von dieser grässlichen Krankheit heimgesucht wurde. Auch in deutschen Landen hatte man begonnen, sich gegen den Schwarzen Tod - so genannt wegen der schwarzen Hautflecken der Befallenen - zur Wehr zu setzen. So hatte zum Beispiel die Stadt Basel bereits um 1400 ein Seuchengesetz erlassen, das es allen von Beulenpest, Lungenschwindsucht, Epilepsie, Antoniusfeuer, Krätze, Milzbrand und Aussatz befallenen Personen verbot, mit ihren Mitbürgern in Kontakt zu treten.
Außerdem war die Obrigkeit allerorten darum bemüht, die katastrophal unhygienischen Zustände wenigstens ein bisschen abzumildern.
Über viele Städte wurde der sogenannte Pestbann verhängt, sobald bekannt wurde, dass in ihren Mauern eine Seuche ausgebrochen war. Das hatte zur Folge, dass niemand diesen Ort betreten oder verlassen durfte; das Gemeinwesen war somit von Handel und Kommunikation völlig abgeschnitten.
Das beste Schutzmittel aus medizinischer Sicht bestand in der Flucht vor der »verseuchten Luft« in eine andere Landschaft. Sobald die ersten Fälle einer Erkrankung publik wurden, setzte eine Massenflucht der Reichen ein, die sich aufs Land in ihre Villen und Schlösser zurückzogen und abwarteten, bis die Krankheit in der betroffenen Stadt abgeklungen war.
Auch Herzog Maximilian verließ regelmäßig mit seiner Familie die Residenzstadt München, um in Landshut, Ingolstadt oder an
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