Die Hexenadvokatin
einem anderen Ort das Abflauen der Pest abzuwarten. Seit dem 15. Jahrhundert tauchten an den Mauern der Friedhöfe und Klöster Gemälde der »Totentänze« auf, die in Bild und Wort dem frommen Betrachter das »memento mori« verdeutlichten: Der Sensenmann, »Gevatter Tod«, holte alle, gleichgültig, ob jung, ob alt, ob reich oder arm.
Die Religion bot vielen Menschen eine Erklärung für die schreckliche Krankheit, denn in der Apokalypse des Apostels Johannes stand sie unter den Plagen verzeichnet, die von Gott den Sündern als Strafe zugedacht waren.
All diese Gedanken waren der Gräfin blitzschnell durch den Kopf geschossen, als sie der betroffenen Mienen in der Residenz gewahr wurde. Aber der Bedienstete - ein richtiger Milchbart noch, trotz seiner beachtlichen Größe und seiner breiten Schultern - wehrte ab. »Nein, nein, Herr! Von einer Seuche weiß ich nichts. Aber es hat sich etwas ereignet, das Seine Durchlaucht zutiefst betroffen gemacht hat.«
Gütiger Himmel! Das konnte nur ein Todesfall innerhalb der herzoglichen Familie sein. Ob vielleicht der alte Herzog Wilhelm, der mittlerweile wie ein Eremit lebte, einem Schlagfluss erlegen war? Oder war es etwa die liebenswürdige Herzogin Elisabeth, die der Herrgott plötzlich zu sich gerufen hatte?
Der Trabant war jedoch nicht bereit, auf die drängenden Fragen »des Geheimen Rats« zu antworten und Alberta unterließ es, weiter zu insistieren. Sie würde es schnell genug erfahren …
»Heilige Muttergottes! Nein!«
Welch ein grauenhaftes Unglück! Es dauerte eine Weile, bis die Gräfin und ihr Mentor die ganze Tragweite des Vorgefallenen recht begriffen. Kaum vermochten sie, sich auf die weiteren Erläuterungen des Landesfürsten zu konzentrieren, den Alberta noch nie so aufgewühlt erlebt hatte:
Constanzes Eltern, Graf Georg und seine Gemahlin, Gräfin Angelica von Heilbrunn-Seligenthal, waren noch in der Nacht vom bayerischen Oberland aus aufgebrochen, um in aller Frühe ihr Kind aus dem Falkenturm zu holen und nach Hause zu bringen. Es war ausgemacht, dass der Graf mit seiner Begleitung die kleine, in die Stadtmauer eingelassene Pforte benutzen durfte. Die riesigen Flügel der eigentlichen Stadttore wurden um diese Zeit noch nicht geöffnet.
Der »Eisenhans« und seine Frau standen schon am Eingang des Falkenturms bereit, um das gräfliche Paar hereinzubitten.
»Bitte, Euer Gnaden, nehmt so lange Platz«, bat die Bürglerin die vornehmen Gäste, als diese sich die engen Treppen zum zweiten Stockwerk hoch gequält hatten, und wies auf die beiden einzigen Stühle mit Lehnen in der bescheidenen Wohnstube.
»Ich werd’ mich beeilen und geschwind Euer Töchterlein aus dem obersten Stock herunterholen. Ich denk’, das gnädige Fräulein wird nicht sehr fest geschlafen haben in der letzten Nacht vor dem Gang in die ersehnte Freiheit.«
Während die Kerkermeisterin die schmale Stiege nach oben entschwand, bot der Scharfrichter dem Grafen einen Krug
Braunbier an, den dieser dankend annahm. Das bittersüße Malzgetränk würde seinen Durst, hervorgerufen durch den scharfen, nächtlichen Ritt, löschen helfen. Außerdem würde es ihm heute das Frühmahl ersetzen.
Seine Gemahlin begnügte sich mit einem Schluck Wasser. Angelica hatte auf dem Ritt nach München Ströme von Freudentränen vergossen. Hatte sie ihr liebes Kind doch bereits auf dem Scheiterhaufen gesehen … Die Gräfin hielt es nicht auf ihrem Stuhl; ruhelos wanderte sie in der primitiven Wohnküche des Kerkermeisters hin und her, vom rußgeschwärzten Herd, über dem die blankgescheuerten Töpfe und Pfannen hingen, bis zur Tür und zurück …
»Wo bleibt sie nur?«
Das Gesicht der Gräfin, hektisch gerötet vor Ungeduld und Wiedersehensfreude zugleich, verzog sich unwillig. In diesem Augenblick ertönte ein grässlicher Schrei von oben, der die drei Personen ein Stockwerk darunter erstarren ließ.
Herzog Maximilian - düsterer denn je - richtete den durchdringenden Blick seiner großen Augen auf »seinen Geheimen Rat«.
»Graf zu Mangfall-Pechstein, heute Nacht hat sich eine große Tragödie im Falkenturm ereignet. Die Frage ist: Hättet Ihr oder hätte irgendjemand sonst dieses Unglück verhindern können? Ich glaube es nicht.«
»Ich bin über die Maßen entsetzt, Durchlaucht.«
Alberta war leichenblass, seit sie gehört hatte, dass Constanze am frühen Morgen tot aufgefunden worden war. Das Ganze war unbegreiflich!
Das Mädchen hatte sich doch offensichtlich gefreut,
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