Die Hexenadvokatin
demnach bereits im Turm aufgehalten haben. Jedoch war niemandem ein Fremder aufgefallen und welches Motiv sollten die Bürglers oder einer der im Erdgeschoss untergebrachten Wachsoldaten und Henkersknechte gehabt haben, das junge Mädchen umzubringen?
»Es widerspricht auch allen Gepflogenheiten eines Mörders, sein Opfer durch Aufschneiden der Pulsadern zu töten«, stellte Alberta im Gespräch mit Pater Winfried fest.
»Stimmt«, pflichtete dieser ihr bei. »Ein Mörder würde versuchen, sein Opfer ins Herz zu stechen.«
Keiner der während der Nacht im Falkenturm anwesenden Personen gab an, irgendetwas Verdächtiges gehört zu haben; alle hätten tief geschlafen. Lediglich die Mädchen, sieben und elf Jahre alt, hatte Alberta nicht befragt.
Bereits in aller Herrgottsfrühe, gegen vier Uhr, pflegte der fünfzehnjährige, älteste Junge des »Eisenhans« aufzustehen und im Küchenherd Feuer zu machen, um der Mutter die Arbeit zu erleichtern. Sie kochte dort immer den mit Honig gesüßten Gerstenbrei, der der Familie, den Gefangenen und auch den Wachen und Henkersknechten als Frühmahl gereicht wurde. Auch dem Jungen war an jenem Morgen nichts aufgefallen.
Das Rätsel, wie Constanze sich das Messer beschafft hatte, war hingegen nicht schwer zu lösen: Die junge Frau musste es nach dem Abendessen aus der Küche mitgenommen haben.
Schon bei der flüchtigen Untersuchung des Leichnams durch den herbeizitierten Stadtmedicus erwies sich, dass sich die Novizin nicht nur die Pulsadern an den Handgelenken, sondern auch die Venen an den Knöcheln und in der Leiste geöffnet hatte. Sie schien tatsächlich über medizinische Kenntnisse zu verfügen.
»Es hat sicher nicht allzu lange gedauert, bis das Fräulein verblutet war«, bemerkte der Medicus, der auch bei Hinrichtungen hinzugezogen wurde, um etwa den Tod von Geräderten oder Gehenkten festzustellen.
Die Kerkermeisterin blieb indes dabei, im Kämmerchen der Gräfin keinen Brief, keinen Zettel und auch sonst keine Nachricht gefunden zu haben.
»Das Warum ist und bleibt rätselhaft«, musste Alberta anschließend dem Herzog gestehen. Das war in höchstem Maße unbefriedigend - vor allem für die gramgebeugten Eltern.
Obwohl man versucht hatte, das grausige Geschehen im Falkenturm geheimzuhalten, verbreitete sich innerhalb weniger Stunden in der Stadt das infame Gerücht, der Teufel habe das junge Ding im Laufe eines ganz speziellen Liebesspiels übel zugerichtet und anschließend ihren Körper in den dreckigen Stadtgraben geworfen.
Vielleicht sei die angebliche Heilige ja doch eine ganz besondere Hex’ gewesen …
Die Gräfin schloss die Akten dieses Falls bereits am selben Tag. Die »Causa Constanze von Heilbrunn-Seligenthal betreffs Abtrünnigkeit vom wahren Glauben, Ketzerei und Umgang
mit Dämonen« war für immer erledigt. Daran änderte auch das grausige Ende nichts.
Mit Rücksicht auf die Eltern hatte man sich offiziell darauf geeinigt - auch mit Zustimmung der hohen Geistlichkeit -, die Tatsache ihrer Selbstentleibung ihrem zerrütteten Geisteszustand zuzuschreiben. So war der ehemaligen Novizin wenigstens ein christliches Begräbnis sicher.
Auch an diesem Abend sollten die junge Gräfin und Pater Winfried noch lange im »Kleinen Salon« beisammensitzen. Alberta befahl den Dienern nach dem Nachtmahl, im Kamin große Buchenscheite nachzulegen, ahnte sie doch, dass sich ihr Gespräch über das Geschehene bis in die Morgenstunden hinziehen würde. Aber alles Diskutieren über die Tatsache, warum das Edelfräulein den Tod gewählt hatte, brachte letztlich kein Ergebnis.
Pater Winfried, dem hauptsächlich daran gelegen war, in seiner Schutzbefohlenen keine Schuldgefühle aufkommen zu lassen, versprach, die auf so schreckliche Art Dahingegangene in seine täglichen Gebete einzuschließen.
Alberta konnte dies im Augenblick nur wenig trösten; eine tiefe Traurigkeit hatte sie erfüllt - und das Gefühl einer Leere, das sie in dieser Form noch nie erlebt hatte. Als sie ins Bett ging, ertappte sie sich vor dem Einschlafen bei dem Gedanken, dass all das doch nur endlich einmal aufhören möchte.
KAPITEL 62
25. April 1612, in der herzoglichen Residenz
HERZOG MAXIMILIAN WAR mehr als angetan, als Gräfin Alberta ankündigte, sie könne es bis zum Ende des Jahres schaffen, den Codex Maximilianeus auf den Weg zu bringen. »Das klingt zu schön, um wahr zu sein!«
Seine Durchlaucht war begeistert, aber dennoch glaubte Alberta Zweifel im stets
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