Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Noch niemals war sie erwischt worden.
Die acht schreienden Nachtwächter kontrollierten zwar die Gassen, schenkten aber dem Fluss nur wenig Beachtung, denn hier war die Feuergefahr nicht so groß. Außerdem wurde der Ein- und Ausfluss der Pegnitz von den acht Nachtwächtern auf den Schoßgattern kontrolliert, die stündlich ihr Hornsignal gaben.
Wie so oft wirkte auch heute Nacht der im Mondlicht seidig dahinströmende Fluss beruhigend auf ihr Gemüt. Anders als bei Tage konnte man nicht sehen, wie viel Unrat darin herumschwamm, und es stank auch viel weniger, weil die Gerber nachts nicht arbeiteten.
Sie zog ihre Holzschuhe aus, schwang die Beine über die steinerne Brüstung, setzte sich darauf, zupfte den Rock mit der Schürze wieder zurecht und warf einen Stein, der sich in ihren Schuh verirrt hatte, in den Fluss, wo er im Dunkel verschwand.
Rosa war ganz sicher, dass es einen Grund geben musste, warum der Rat so dermaßen ungnädig zu ihrer Mutter gewesen war. Es konnte doch nicht nur an ihrem Hexenfinger liegen, oder etwa doch? Die Begründung, die die Ratsmitglieder vorgebracht hatten, war nur vorgeschoben und geradezu lächerlich gewesen. Drahtzieher gab es schließlich noch sehr viel mehr als Spielkartendrucker in der Stadt, und deren Witwen wurden nicht gezwungen, die Werkstätten zu schließen.
Rosas Blick fiel auf ihre ungleichen Hände. War ihnen diese Missbildung so unheimlich, dass man sie loswerden wollte? Dabei waren sie in Nürnberg doch alle stolz darauf, sich vom katholischen Aberglauben abgekehrt und für das reformatorisch Aufgeklärte entschieden zu haben. Und nun schien selbst der Rat zu glauben, sie wäre verhext. Vor allem diesem Dobkatz war sie ein Dorn im Auge. Aber warum?
Sie sah sich verstohlen um, hörte zwar einen Nachtwächter die elfte Stunde ausrufen, konnte aber sonst niemanden entdecken und zog mit ihrer rechten Hand die purpurfarbenen Handschuhe unter ihrem Brusttuch hervor. Sogar im fahlen Licht des Halbmonds konnte sie sehen, wie schön dieses letzte Geschenk ihres Vaters war. Unwillkürlich hob sie sie hoch und bettete ihre Wange in das geschmeidige Leder. Es fühlte sich angenehm kühl an in dieser stickigen Nacht.
Sie würde den linken davon jetzt anziehen, auch wenn es ihr merkwürdig vorkam, die verunstaltete linke Hand mit so etwas Elegantem zu umhüllen. Sie zupfte an jeder einzelnen Fingerkuppe des abgenutzten braunen Handschuhs, den sie momentan trug, bis alle Lederfinger locker waren, und zerrte ihn schließlich ungeduldig herunter.
Da lag sie in ihrem Schoß, diese verfluchte Hand, jeder Finger kleiner und zarter als die der rechten Hand. Mit rosigen Nägeln und Halbmonden, so klar erkennbar wie die weiße Sichel, die sich heute Abend im Wasser der Pegnitz spiegelte. Nur dass es links keine fünf waren, sondern sechs. Zwei kleine Finger, wo Gott nur einen vorgesehen hatte. Sie würde sich an diesen Anblick niemals gewöhnen, nie! Rosa hasste es, diesen Finger anzusehen, und trug ständig einen Handschuh, der so gefertigt war, dass beide kleinen Finger in einem Fingerling stecken konnten.
Und wegen dieser neuen Handschuhe war ihr Vater gestorben! Er hatte ihr eine Freude bereiten wollen, als er von einem befreundeten venezianischen Kaufmann, Giuseppe Baldessarini, hörte, er hätte einen der Erlanger Handschuhmacher mit neuartig weichem Leder in allen Farben des Regenbogens beliefert. Ihrem Vater gefiel der Gedanke, dass seine Tochter statt des grobledernen braunen Handschuhs einen weichen purpurfarbenen tragen würde. Und deshalb hatte er beim besten Handschuhmacher von Christian-Erlang, bei dem Hugenotten Jean-Pierre Verdier, diese Spezialhandschuhe für sie anfertigen lassen. Auf dem Rückweg war er dann unglücklich vom Pferd gestürzt und auf der Stelle tot gewesen.
Rosa packte den alten Handschuh und schleuderte ihn weit übers Wasser. Sie wunderte sich, kein Platschen zu hören, und entdeckte den Handschuh, der an einem vorbeitreibenden dicken Ast hängen geblieben war und dort wie eine dunkle Frucht in den bleich aufscheinenden Zweigen baumelte, bevor er mit einem sanften Gurgeln ertrank.
Während sie den neuen Handschuh anlegte, wusste sie auf einmal ganz sicher, wie der Vater auf ihren Plan reagiert hätte. Auch er hätte alles auf eine Karte gesetzt. Unwillkürlich lächelte Rosa.
Auch wenn du glaubst, du verlierst, gib nie auf, niemals! Ein Blatt ist immer nur so schlecht wie sein Spieler! Rosa schwang ihre Beine zurück zum Pfad, schlüpfte in
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