Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Hier wäre ihr Platz, hier bei mir.« Die Mutter schlug sich bei den letzten Worten auf die magere Brust. Rosa wurde jetzt erst klar, dass sie der Mutter noch zusätzlichen Kummer bereitet hatte. Ohne nachzudenken, schritt sie zu ihr hin, wollte ihr tröstend mit der Hand über den Arm streichen, doch die Mutter wich zurück und legte ihre Arme links und rechts um die Zwillinge. Wie eine Wand saßen die drei vor ihr.
Wie ähnlich sich die drei sahen, schoss es durch Rosas Kopf. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, warum sie so völlig aus der Zapf’schen Art geschlagen war. Die drei hatten ein lang gezogenes Gesicht und ihre wenigen dünnen Haare die Farbe von nassem Sand. Drei fahlrosa und schmale Münder, deren hübsch geschwungene Oberlippen sich gerade missbilligend kräuselten. Vier graugrüne Augen starrten Rosa durchdringend an. Bei denen von Maria wusste man nie genau, wo sie hinsah.
»Alles, was zählt, ist das Ergebnis«, sagte Rosa und zitierte damit ihren Vater, der Machiavelli für den größten aller italienischen Staatsmänner gehalten hatte. Sie hoffte, damit ihre Mutter zu besänftigen.
Toni räusperte sich und fragte, ob denn heute nichts zu Mittag gegessen werden sollte, dann bat sie Eva und Maria, ihr dabei zu helfen, die Suppe aufzutragen.
»Wir haben diese zwei Jahre, Mutter. Ich werde Kaspar holen, und ihr werdet in dieser Zeit so viel Geld wie möglich sparen, für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. Aber ich werde es schaffen. Also, Mutter, warum passt es dir nicht, dass wir gewonnen haben?«
»Wir haben nicht gewonnen, sondern gelogen, mein Kind, das ist ein großer Unterschied.«
Das war nun doch reichlich ungerecht, fand Rosa. »Ich habe für zwei Jahre unser Dach über dem Kopf gesichert. Außerdem«, sie zögerte, dann atmete sie tief durch, »außerdem habe ich nicht gelogen, denn ich werde losziehen und Kaspar nach Hause holen!«
Niemand sagte ein Wort.
»Aber Rosa, wer soll die Werkstatt leiten, wenn du weg bist?«, fragte Maria nach einer Weile und brach die eisige Stille. »Wer soll sich neue Kartenbilder ausdenken?«
»Das werdet ihr schon schaffen. Wir werden einen Vorrat anlegen. Und ich werde euch noch zwei neue Druckstöcke stechen, dann könnt ihr genug Kopien davon abnehmen. Das wird reichen.«
»Aber nur du kannst die Karten so gut entwerfen und stechen wie Vater«, mischte sich jetzt Eva ein.
Rosas Brust wurde enger, als sie die besorgten Blicke ihrer Schwestern auf sich fühlte. Die beiden waren wirklich nicht in der Lage, auch nur eine gerade Linie zu ziehen. Bei Maria machte es das Schielen unmöglich, und Eva hatte nicht genug Kraft, ihre Linien waren zu zittrig.
»Bis ich abreise, werden wir all das geregelt haben. Das verspreche ich euch.« Rosa versuchte, die Stimmen in ihrem Kopf zu ignorieren, Stimmen, die sie mit der höhnischen Stimme des Spitzbärtigen fragten, wie sie das denn überhaupt anstellen wollte. Stattdessen lächelte sie ihre Schwestern aufmunternd an, obwohl diese sie anstarrten, als hätte sie ihnen ihr Todesurteil verkündet.
Toni brachte den Suppenkessel und stellte ihn auf den Tisch. Die Zwillinge verteilten Tonschüsseln und Löffel.
Rosa betrachtete widerwillig ihre Gerstensuppe, sie hatte keinen Hunger. »Mutter, ich muss nach Indien fahren, der Rat hat es nun so festgelegt«, brach es aus ihr hervor. »Wie stehen wir denn da, wenn ich es nicht einmal versuche?«
Maria und Eva schlürften ihre Suppe, Toni sah Rosa fragend an.
»Du redest Unsinn, Kind.« Die Mutter legte ihren Löffel seufzend hin. »Die Reise nach Indien dauert lang und ist gefährlich. Dein Vater hätte das niemals gutgeheißen.«
»Aber was sollen wir denn sonst tun? An den elenden Martin Löffelholtz verkaufen? Der war dem Vater immer schon ein Dorn im Auge! Jedes Mal, wenn der Vater eine neue Idee hatte, hat der Löffelholtz sie schnell kopiert und billiger verkauft. Nein, der Vater hätte gewollt, dass wir das, was er aufgebaut hat, weiterführen. Niemals hätte er seine Werkstatt an den Löffelholtz verschleudert!«
Die Mutter seufzte wieder. »Dein Vater, Gott hab ihn selig, war ein Spieler und Verschwender. Ich weiß nicht, welchen Narren er ausgerechnet an dir gefressen hatte …«
Rosa sah unwillkürlich auf ihre behandschuhte linke Hand. Ihr sechster Finger war kalt geworden … Unmöglich, ihre Mutter log nie. Sie war die Einzige, die Rosa noch nie bei einer Lüge erwischt hatte. Alle anderen, auch der Vater, Toni und die Zwillinge logen,
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