Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Kranken hungerten so nach Zuwendung, dass sie sich schäbig vorgekommen wäre, sie ihnen zu verweigern. Und alle, die gesund wurden, waren einfach nur glücklich darüber, das Fleckfieber überlebt zu haben. Keiner von ihnen war bisher auf die Idee gekommen, ihr Verhalten irgendwie mütterlich oder weibisch zu nennen.
Sie betrachtete den jungen Matrosen, der vor ihr lag, sein Mund bläulich verfärbt. Er war tot, gestorben, während sie ihm die Geschichte von den sieben Eiern erzählt hatte. Sie schloss behutsam seine Augen und murmelte ein Gebet. Dann erhob sie sich, um Wolfhardt Bescheid zu sagen. Sie war froh, für ein paar Minuten dem infernalischen Gestank unter Deck entrinnen zu können.
Am Ende der Treppe oben an Deck wartete jemand auf sie. Der Missionar, unrasiert und hohlwangig. Er bekam noch weniger zu essen als die körperlich hart arbeitende Besatzung. Der Kapitän versuchte, so gerecht wie möglich zu sein.
»Du hast viel zu tun.« Er betrachtete sie forschend.
»Lasst mich durch, ich muss zum Arzt – wir haben schon wieder einen Toten zu beklagen.«
»Dann begleite ich dich.«
»Geht doch lieber da unten rein und gebt den Sterbenden christlichen Beistand, wie es Euer Beruf gebietet.«
»Wenn ich da runtergehe, bin ich in Kürze auch tot. Und das ist das Letzte, was ich will. Ich will leben.«
»Was für ein abgefeimter Mensch Ihr seid!«
»Oho … abgefeimt!«
»Lügner, Betrüger, selbstsüchtiges Ekel …«
Jetzt lachte er aus vollem Hals. Rosa hasste ihn und hätte ihm gern ordentlich eine runtergehauen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Du hast mich durchschaut. Das ist es, was ich bin, aber wenn du dir deine Mitmenschen betrachtest – sind wir nicht alle so?«
»Nein!« Rosa war außer sich und verlangte danach, ihrer Empörung Luft zu machen. »Was für eine billige Behauptung!«
»Ja, ich vergaß, du bist natürlich eine Heilige, die Heilige mit den Handschuhen.«
Jetzt reichte es Rosa, sie schlug ihn fest ins Gesicht.
Überrascht packte der Missionar Rosas Arm und drückte ihn so fest, dass Rosa Angst bekam, er würde ihn brechen.
Er zog sie zu sich heran. »Du solltest langsam lernen, deine Mitmenschen so zu sehen, wie sie sind. Die meisten sind selbstsüchtige Lügner, etwas anderes zu erwarten ist nicht nur kindisch, es ist lächerlich.« Er ließ widerstrebend ihren Arm los und lächelte dann plötzlich. »Natürlich ist dieses Kindische an dir auch reizvoll, man lechzt geradezu danach, dich zu verderben.«
Rosa stürmte davon. Sie zitterte am ganzen Körper, und in ihren Ohren rauschte es. Kindisch! Sie! Die mit einem Hexenfinger auf die Welt gekommen war!
Sie rannte bis zur Reling und starrte auf die See, die gleißend glatt wie eine polierte Metallplatte in der Sonne schimmerte. Ruhig atmen, befahl sie sich – du wirst diesem Mann nie mehr zuhören.
Sie hörte Stimmen hinter sich. Das war ungewöhnlich, denn solange Flaute herrschte, war es geradezu unheimlich still auf dem oberen Deck.
Sie drehte sich um und erkannte Wolfhardt im Gespräch mit dem kleinen Männlein von Kapitän. Beide hatten ihre Stirn in steile Falten gelegt, doch Wolfhardt wirkte wesentlich düsterer als der Kapitän. Seine Schultern hingen herab, wie von Tonnen niedergedrückt, und sein Gesicht war grau von Schlafmangel.
Dieser Missionar war wirklich ein übler Mensch – von wegen alle waren selbstsüchtige Lügner. Wolfhardt arbeitete sich für die Gesundheit dieses Schiffes krumm und lahm! Natürlich logen alle Menschen von Zeit zu Zeit, aber es war sehr schwer zu beurteilen, warum. Sie logen nicht immer nur aus Selbstsucht. Sehr oft aus Liebe oder aus Rücksichtnahme.
Die beiden kamen direkt auf sie zu.
»Carlo, wie sieht es unter Deck aus?«
»Leider schlecht, gerade haben wir wieder einen verloren. Und es gibt noch zwei, um die es sehr schlecht bestellt ist.«
»Beim heiligen Neptun!« Sie traten neben Rosa an die Reling und starrten auf das wie tot daliegende Meer.
»Nach unseren Berechnungen müssten wir bald hier durch sein und wieder an Fahrt aufnehmen.« Der Kapitän stöhnte. »Aber wenn ich mir das so betrachte«, er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf den Horizont, »da hinten, seht ihr, das sieht nicht gut aus. Dort ballen sich die Wolken zusammen, das könnte zu einem üblen Taifun werden. Das ist das Letzte, was wir jetzt noch gebrauchen können. Die Mannschaft ist so geschwächt, ein Taifun würde uns das Genick brechen.«
Rosa starrte in die Richtung, in die der
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