Die Hexengabe: Roman (German Edition)
der Kapitän und tätschelte Rosa den Rücken, was ihr merkwürdig vorkam, weil er so klein und zart neben ihr wirkte und gar nicht wie der erste Mann an Bord.
Gewisse fleischliche Sünden … Erst durch das Mitgefühl des Kapitäns verstand Rosa, was der Missionar damit hatte sagen wollen. Unfassbar! Sie musste alle Muskeln anspannen, um dem Lügner nicht in den Schritt zu treten. Ihn anzubrüllen. Dieser elende Mistkerl! Sie musste hier verschwinden.
»Ich danke Euch für Euren so wertvollen Rat«, stammelte sie und rannte davon.
Das Gelächter der Männer folgte ihr bis zur Hängematte, in die sie sich wütend warf.
Sollte der Lügner mich noch einmal so lächerlich machen, werde ich den Dolch rausholen und ihm seine Zunge abschneiden, schwor sie sich und starrte in die Nacht, bis ihr endlich die Augen zufielen.
30. Kapitel
S eit Wochen lag das Schiff wie ein verwesender Kadaver auf dem Wasser. Die Hitze dörrte alles und jeden aus.
Und es war Rosa vollkommen wahnsinnig vorgekommen, am heiligen Weihnachtstag »Stille Nacht, Heilige Nacht« zu singen, während ihr der Schweiß in die Augen tropfte und das Festessen danach lediglich aus einer Extraportion Gin bestand.
Der Missionar war vom Kapitän gezwungen worden, eine Weihnachtsansprache zu halten, die Rosa erstaunlich ergreifend fand, jedenfalls dafür, dass sie aus dem Mund eines notorischen Lügners kam.
Sie ging dem Missionar aus dem Weg und vermied es, sich allein auf Deck aufzuhalten. Das war nicht weiter schwer, denn auf der Amalberga war am Weihnachtsabend das Fleckfieber ausgebrochen und hatte schon sieben Matrosen den Tod gebracht.
Obwohl der Arzt alles tat, um die Erkrankten zu isolieren, damit sie die anderen nicht anstecken konnten, kamen jeden Tag neue hinzu. Zuerst verfärbte sich die Haut fleckig, dann stieg das Fieber unaufhaltsam an, viele bekamen trotz der Hitze Schüttelfrost und wurden bewusstlos. Bis jetzt hatten nur fünf Matrosen die Infektion überlebt. Alle anderen waren daran gestorben.
Das Wasser wurde bereits seit Tagen rationiert, man hatte auf Deck sogar schon große Tücher aufgespannt, um eventuellen Morgentau aufzufangen.
Willem half Rosa, außerdem waren noch zwei Söldner zu ihrer Unterstützung abkommandiert worden. Aber sie konnten nicht viel tun. Jeder erhielt nur noch ein Achtel der normalen Wasserration, die brackig warm war und voll mit Würmern. Rosa filterte ihr Wasser durch ein Stück Stoff, und es schauderte sie, wenn sie daran dachte, wie die Matrosen es mit Todesverachtung ungefiltert hinunterstürzten. Auch das Essen musste rationiert werden, und weil alle Tiere geschlachtet und der Garten verdorrt war, gab es nur mehr verschimmelten Zwieback, Erbsbrei, die letzten Reste Sauerkraut und immer und immer wieder Graupensuppe.
Jetzt wurde Rosa auch klar, warum es verboten war, sich über das Essen zu beschweren. Hätte auch nur einer damit angefangen – eine Meuterei hätte sich in Windeseile ausgebreitet.
Die Chinarinde, die Wolfhardt mit sich geführt hatte, war längst verbraucht, und so war das Einzige, was sie für die Kranken tun konnten, sie zu kühlen und mit ihnen zu beten.
Rosa hatte den Einfall gehabt, eine Paste aus irgendwelchen Zutaten herzustellen, um damit dann den Kranken Hoffnung zu machen. Wolfhardt war von ihrem Vorschlag so begeistert gewesen, dass er zusammen mit ihr Heilerde und Kreide zu einer Paste vermischte, die sie den Kranken dann teelöffelweise verabreichten. Doch obwohl die Kranken die Paste voller Dankbarkeit zu sich nahmen, änderte sich ihr Befinden nur für kurze Zeit.
Die Stimmung war nicht nur schlecht, Rosa hatte den Eindruck, es würde schon die geringste Kleinigkeit genügen, um das Schiff in Brand zu versetzen. Sogar der Profos war so damit beschäftigt, seine Mannschaft im Zaum zu halten, dass er nicht mehr ständig hinter Rosa und Wolfhardt herspionieren konnte.
Die Hitze machte Rosa besonders zu schaffen. Bisher hatten ihre Handschuhe sie nie gestört, aber jetzt schwitzten ihre Hände so stark, dass sich durch die Reibung wunde Stellen gebildet hatten, die es ihr schwer machten, die Hände überhaupt zu bewegen.
Weil sie nicht viel für die Kranken tun konnte, setzte sie sich zu denen, die noch bei Bewusstsein waren, und spielte Karten mit ihnen. Wenn sie auch dazu zu schwach waren, dann erzählte sie ihnen die Geschichten, die sie von Dorothea gehört hatte. Zuerst hatte sie Angst gehabt, man würde dabei merken, dass sie eine Frau war, aber die
Weitere Kostenlose Bücher