Die Hexengabe: Roman (German Edition)
falsch von mir gewesen, ihr nur mit verhaltenen Höflichkeitsbezeigungen zu begegnen, ich hätte mich in den Staub zu ihren Füßen werfen sollen und schwärmen, wie schön sie sei, was nicht einmal gelogen wäre, denn sie war für eine alte Frau von vierzig Jahren, die sechs Kinder geboren hatte, in der Tat immer noch schön. Aber ich würde mich vor niemandem mehr niederwerfen.
»Natürlich, da hast du recht, ich dachte nur, du als Mutter könntest das Herz einer anderen Mutter verstehen …«
»Ich bin nicht nur Mutter«, sagte sie laut und richtete den Paluv ihres purpurfarbenen Seidensaris über den Schultern wieder gerade, »ich bin die Mutter des nächsten Khans, denn mein Sohn Jahangir ist sein auserkorener Liebling.«
Ich neigte den Kopf. »Jahangir ist unser aller Licht«, log ich. »Und wie ich höre, studiert er eifrig den Koran und schießt jetzt schon mit Pfeil und Bogen so gut wie sein Vater.«
Amatulkarim ließ sich zu einem Lächeln herab.
Ich nutzte ihr Wohlwollen und deutete auf Kulthum Kaspari. »Auch dieser Tollpatsch wird wachsen wie dein Sohn, das ist der Lauf der Welt, und dann sollte er den Harem verlassen.«
Das Lächeln verschwand sofort, und ihre Augen musterten mich abweisend.
»Ich wünsche, dass er bleibt und mich mit seinen Tollheiten erfreut. Seine Entmannung ist bereits mit Beshir und Khan Ammar Bahadur Karim besprochen, und die Astrologen haben den nächsten Neumond für günstig bestimmt. Seine Mutter kann froh sein über die Ehre, die ihrem Sohn erwiesen wird. Immerhin ist sie nur …«, Amatulkarim holte Luft und zog ihren Mund zu einem verächtlichen Schnauben zusammen, »… deine Sklavin, also ein Niemand.«
Ich betrachtete den dicken Jungen, dessen schwarze Farbe jetzt mit viel Gekicher von den Sklavinnen wieder abgewaschen wurde. Sie kitzelten ihn, sodass er sich wand wie ein Fisch, doch sosehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, ihren Händen zu entkommen.
Es kam nicht oft vor, dass Jungen aus dem Harem zu Eunuchen gemacht wurden; die meisten Eunuchen wurden als Kinder in Abessinien geraubt und dann entmannt. Nur wenige überlebten diese grauenhafte Prozedur. Niemand war danach mehr er selbst. Wie konnte Amatulkarim ernsthaft glauben, dass Kaspar, wenn er diese Amputation überlebte, noch zu irgendwelchen Tollheiten aufgelegt sein würde?
Auf keinen Fall konnte ich Dorothea das erzählen … Vielleicht würde sie den nächsten Neumond nicht mehr erleben?
Plötzlich kreuzte sich Kaspars Blick mit meinem, und er hörte auf zu lachen, griff nach einem Tuch und kam zu mir gelaufen. »Was ist denn los? Ist etwas mit Mama?«, fragte er, und seine sonst so strahlenden Himmelaugen waren dunkel vor Sorge.
Ich schüttelte den Kopf.
Amatulkarim beugte sich zu ihm, gab ihm ein Küsschen auf die Stirn. »Du Verrückter, mein Habibi!«, und Kaspar ließ es sich, sofort wieder abgelenkt, lachend gefallen.
Ich wäre am liebsten aus dem Palast gerannt, weil ich das keine Sekunde länger anschauen konnte, aber ich beherrschte mich und schritt ruhig davon. Dabei war mein gesamter Körper in Aufruhr. Noch drei Wochen bis Neumond. Ich musste etwas tun. Aber was?
42. Kapitel
N ach über drei endlos langen Monaten, in denen Rosa ständig von ihrem doppelten Verrat an Luis gequält wurde, stieg sie unter einem schweren grauen Augusthimmel in Masulipatnam vom Schiff. Nicht nur, dass sie ihn todkrank zurückgelassen hatte, nein, sie hatte auch noch sein Gold genommen.
Sie hatte Luis einen langen Brief geschrieben und hoffte, wenn er erst wieder gesund wäre, würde er sie verstehen.
Danach hatte sie sich wie ein Dieb von dem Weingut weggeschlichen, um es noch rechtzeitig auf die Stella Maris zu schaffen.
Der Kapitän hatte sich erst geweigert, sie mitzunehmen, aber als sie bereit war, das Doppelte zu bezahlen, hatte er kurzerhand eine Offiziersfrau aufs nächste Schiff verfrachtet.
Nach der öden Überfahrt, die sie eingesperrt in einer Kajüte in der Gesellschaft von Johanna Maria Balgenziege, einer Missionarsfrau, verbringen musste, konnte Rosa sich nun nicht sattsehen an den vielen Menschen, die sich trotz der drückenden Hitze am Hafen tummelten.
Da gab es welche mit weißen Turbanen, Alte mit langen Bärten und kurzen Pluderhosen, glatt rasierte Männer mit langen Hemden über weiten Hosen, schwarze Männer, weiße Männer, Spanier und Engländer und endlich auch andere Frauen.
Viele trugen große, schwer mit Früchten beladene Körbe auf dem hoch erhobenen
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