Die Hexengabe: Roman (German Edition)
dem Prasseln des Regens, dem unablässigen Zwitschern von Vögeln und den seltsam fremden Schreien von Tieren.
Je näher sie der Brücke kamen, desto stärker wurde der Geruch nach Fäulnis, und dann erkannte Rosa, woher er stammte. Die lange Holzbrücke führte nicht über Wasser, sondern nur über endlose Schlammmassen, von denen der Gestank aufstieg.
Sie beeilten sich, die Brücke zu überqueren, dann erreichten sie ein kleines Wäldchen, wo die hohen Bäume ein wenig vor dem herabstürzenden Regen schützten. Aber die Kulis, die hier warteten, waren trotzdem vollkommen nass. Sie standen neben dem Palankin, und Rosa wunderte sich, warum sie nicht darunter Schutz vor dem Regen gesucht hatten.
Ein Palankin erwies sich als eine Art Diwan, drei Fuß breit und vielleicht sieben Fuß lang, weich gepolstert und mit vielen Kissen versehen. An seinen vier Ecken ragten lange Stäbe aus Bambusholz auf, die zu einem Gerüst miteinander verknüpft waren und über die Stoffbahnen aus Wachstuch hingen und so Schutz vor Regen und Sonne boten.
Die vier Männer standen daneben, ihre nassen nackten Schultern waren mit dicken Schwielen bedeckt, und Rosa fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, dass die sie nun tragen mussten. Fragend sah sie Nandi an.
»Diese Männer gute Männer, schnell und sicher!« Nandi nickte den vieren zu. Sie legten sich dicke, ebenfalls durchweichte Kissen auf ihre Schultern und traten zu dem Traggestell aus Bambus, zwei Männer vorne, zwei hinten.
Rosa vergewisserte sich noch einmal, dass Nandi verstanden hatte, dass sie nach Vanaprashta in die Faktorei der VOC wollte, dann schlüpfte sie unter die Wachstuchplanen. Zwei weitere Männer trugen Rosas Reisetruhe.
Der Diwan war herrlich trocken und weich. Sie legte sich hin, hörte, wie Nandi ein Kommando gab, und wartete gespannt darauf, wie sich das anfühlen würde. Überrascht fand sie sich sanft hin und her geschaukelt. Und weil das Liegen auf dem Diwan so viel bequemer war als das in der winzigen Schiffskoje und weil das einlullende Trommeln des Monsuns ihre innere Unruhe besänftigte, döste Rosa schon nach kurzer Zeit ein.
»Da wir sind.« Nandi weckte Rosa durch den Vorhang. Der Regen hatte nachgelassen, und es war nichts zu hören als leises Tröpfeln, das laute Zwitschern und Singen von Vögeln, ab und zu ein weit entferntes Kreischen und Schreien.
Mit klopfendem Herzen schlug Rosa den Vorhang hoch und stieg aus. Sie wunderte sich, dass sich die Faktorei nicht im Zentrum der Stadt befand, sondern mitten im Grünen.
Neugierig sah sie sich um. Riesige ausladende Bäume mit lachsfarbenen und grünen Blättern und kleinen, weiß blühenden Blüten, die nach Lilien dufteten. Das waren Mangobäume, wie ihr Nandi erklärte. Daneben befanden sich Kokospalmen. Alles war nass vom Regen. Im Laub der Bäume hockten Vögel mit türkis schillerndem Gefieder und knallroten Schnäbeln. Neben den Bäumen befanden sich ein paar Ruinen. Schwarz verkohlte Mauerüberbleibsel, schon überwuchert von dichtem grünem Gebüsch.
Hier lebten keine Menschen mehr.
Rosa sah Nandi fragend an. Das konnte nicht sein!
Er hob bestätigend die Hände und sagte: »Memsahib, Sie wollen diese Adresse: Textilfaktorei Vereinigte Ostindische Kompanie in Vanaprashta!«
»Nein!« Rosa rannte näher zu den Ruinen, aber da waren nur verbrannte Überreste, sonst nichts, nichts, nichts. Sie drehte sich zu ihrem Dolmetscher und den Trägern um.
»Aber das ist ein Irrtum, das ist völlig unmöglich! Ich wollte zu der Familie von Christian Balderius, Kaufmann von der VOC in Vanaprashta.«
»Ist hier!«, beharrte Nandi, auch wenn sein Kopf dabei respektvoll gesenkt blieb.
»Aber das ist unmöglich …« Niemals, kein einziges Mal während ihrer Reise war es ihr in den Sinn gekommen, dass ihrer Schwester und deren Familie etwas zugestoßen sein könnte.
Plötzlich sah sie wieder die Bilder ihres Vaters vor sich, die brennende Apotheke, der brennende Handschuh.
Rosa starrte auf die Überreste eines steinernen Hauses, von dem man anhand der wenigen Mauern und Pfähle noch ahnen konnte, wie groß es gewesen sein musste.
Sie lief zu den Stützpfeilern, als könnte sie dort mehr herausfinden, verhedderte sich in den gierigen Schlingpflanzen, die hier so üppig gediehen, als böten ihnen die Ruinen überreichlich Nahrung. Ja, es wirkte fast, als hätten sie diese Mauern mit ihren alles umschlingenden Ranken erst zum Einstürzen gebracht.
Rosa rannte zur anderen Seite, zu einem der
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