Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Kopf. Dieses immense Gewicht stand in seltsamem Kontrast zu ihren zierlichen Körpern, die nur mit leichten, schillernden Stoffen verhüllt waren. Einige hatten einen dunklen Schleier über dem Kopf, andere nur einen transparenten über ihrem Haar. Wie Siranush trugen sie zahlreiche goldene und silberne Armreife und manche sogar funkelnde Steine in ihren Nasenflügeln.
Zwischen all diesen Menschen schoben sich Lasttiere hindurch sowie weiße Kühe, die niemandem zu gehören schienen.
Zusammen mit der Schwüle waberte Rosa der Duft nach Zimt, Anis und Früchten entgegen, doch diese angenehme Empfindung wurde, je weiter sie sich vom Meer weg in die Stadt hineinbegab, unter dem betäubenden Geruch nach Fäulnis begraben.
Sie rümpfte die Nase – woher kam dieser entsetzliche Gestank?
Nicht wirklich wichtig, entschied sie, es galt vielmehr, endlich zur Faktorei der VOC zu kommen, dorthin, wo ihre Schwester lebte.
Dorothea hatte in ihren Briefen geschrieben, die Faktorei läge ein wenig landeinwärts in Richtung von Vanaprashta.
Auf dem Schiff hatte ihr Johanna Maria Balgenziege ständig und immer wieder mit zirpender Stimme erklärt, wie sie sich verhalten musste, wenn sie in Masulipatnam an Land gegangen wäre.
»Du musst diesen indianischen Eingeborenen gleich klarmachen, dass du die Herrin bist, sonst tanzen sie dir auf der Nase herum!«, hatte sie behauptet und dann wieder Geschichten aus ihrem Leben als Missionarsfrau in Kandy erzählt. Ganz offensichtlich hatte sie es genossen, mehr als zwanzig Dienstboten herumkommandieren zu können. Ausführlich hatte sie sich darüber ausgelassen, dass man »diese Menschen« ständig antreiben müsse, um überhaupt jemals ein Ergebnis zu sehen.
Rosa hatte ihr widerwillig zugehört, aber alles war besser, als ständig an Luis denken zu müssen. Sogar ein Sturm wäre ihr verlockend erschienen, nur um dieses eintönige Einerlei zu unterbrechen. Doch es hatte weder Stürme noch Flauten noch Epidemien gegeben, und so war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich die endlosen Geschichten über ungehörige Dienstboten geduldig anzuhören.
Umso mehr genoss sie es, endlich am Ziel angekommen zu sein.
Sie musste nur noch ein Stück weiter in Richtung Vanaprashta, und dann würde sie ihre Schwester nach über zehn Jahren endlich wieder in die Arme schließen können.
Die Balgenziege hatte behauptet, als Europäerin könne sich Rosa nur im Palankin fortbewegen, alles andere sei nicht standesgemäß. Und weil Rosa keine Anstalten gemacht hatte, sich ihre Ratschläge zu Herzen zu nehmen, hatte Johanna Maria keine Ruhe gegeben, bis ihr Mann für Rosa im Hafen einen Dolmetscher aufgetrieben und dieser einen Palankin bestellt hatte.
Erst als auch das erledigt war, hatte Johanna sich weinend und schniefend von Rosa verabschiedet, als wäre diese ihre Tochter, die sie nun der Hölle überlassen müsste.
Der junge Dolmetscher hatte das Abschiedsdrama aus einiger Entfernung beobachtet, näherte sich jetzt Rosa und lächelte sie an.
»Nandi!«, sagte er und neigte ehrerbietig seinen Kopf, Rosa tat es ihm nach, ohne darüber nachzudenken.
Das brachte seine Mundwinkel zum Zucken. Die Balgenziege hatte sicher recht darin gehabt, dass Rosa keine Ahnung hatte, wie sie mit den Einwohnern dieses Landes umgehen sollte. Aber was konnte an Höflichkeit falsch sein?
»Gehen wir?«, fragte Nandi und deutete auf eine lange schmale Brücke, die von der Stadt, die auf einer Insel lag, zum Festland führte.
»Dort werden warten Palankin, hier nicht Platz«, erklärte er.
In diesem Augenblick fühlte Rosa, wie ein paar Wassertropfen auf ihr immer noch kaum daumenkurzes Haar fielen. Sie sah unwillkürlich in den grauen Himmel.
»Monsoon!«, sagte Nandi und lächelte wieder. Für Rosa klang es wie der Name für eine schöne Blume. Doch noch bevor sie nachfragen konnte, schüttete der Himmel das Wasser kesselweise über ihnen aus.
»Monsun?«, fragte Rosa zurück und war schon nass bis auf die Haut.
»Monsoon!«, bestätigte Nandi. »Wir gehen.«
Er nahm Rosas Gepäck, eine kleine Truhe mit ihren wenigen Habseligkeiten und Kleidern, die ihr die Balgenziege förmlich aufgedrängt hatte, und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen, die gleichmütig im Regen ausharrten. Einige wenige hatten sich ein paar Palmblätter über den Kopf gelegt und feilschten in aller Ruhe weiter. Das Stimmengewirr enthielt viele verschiedene Sprachen, die Rosa vollkommen unbekannt waren. Es vermischte sich mit
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