Die Hexengabe: Roman (German Edition)
nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter unter dem Tod des Vaters gelitten hatte.
»Rosa!« Die Augen der Mutter blieben zu, aber ihre Stimme klang zornig. »Was fällt dir ein? Wie redest du mit dem Rat? Und vor allem, was redest du da?«
Immer noch blass im Gesicht, richtete sie sich auf, legte ihre Hand unter Rosas Kinn, sodass Rosa direkt in die graugrünen Augen ihrer Mutter sehen musste.
»Haltet Euch nicht selbst für klug!«, zitierte die Mutter aus der Bibel.
»Aber diese Spitzbuben wollen, dass wir Vaters Erbe verschleudern! Ja, mir kommt es geradeso vor, als wollten sie uns vernichten!«, erwiderte Rosa.
Ihre Mutter ließ das Kinn los, als hätte sie sich daran verbrannt. Sie schüttelte den Kopf so vehement, dass ihre weiße Haube ins Rutschen kam.
»Mutter, ich musste uns retten! Warum behandeln sie uns anders als die anderen?«
Ihre Mutter wurde wieder bleich und senkte die Augen. Rosa wusste, warum. Es war ihre Schuld, wie immer. Ganz allein nur ihre Schuld, denn sie war anders als die anderen.
»Das, mein Kind, ist eine lange Geschichte«, begann ihre Mutter langsam Wort für Wort hervorzupressen, beinahe so, als müsste sie daran ersticken. Rosa sah ihre Mutter überrascht an. Was für eine Geschichte sollte das sein?
In diesem Augenblick kam der Ratsdiener wieder auf sie zu und gebot ihnen, ihm zu folgen.
Rosas Herz hämmerte. Was würde jetzt geschehen?
Der Spitzbärtige stand auf, ein sardonisches Lächeln huschte über sein Gesicht, so kurz, dass Rosa nicht sicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dann verkündete er mit von Selbstgerechtigkeit triefender Stimme: »Wir, der Rat der Stadt Nürnberg, haben nunmehr folgenden Beschluss gefasst. Wir erlauben der Witwe des seligen Johannes Willibald Zapf, dass sie bis zur Ankunft des Enkelsohnes den Betrieb ohne Einschränkung weiterführen darf. Sollte dieser jedoch nicht auf den Tag genau von heute in spätestens zwei Jahren hier vor dem erlauchten Rat stehen, so erlischt jeder weitere Anspruch der Witwe auf die Fortführung des Gewerbes. Seine Locke behalten wir hier zum Vergleich. Beschlossen am fünfzehnten Juli 1697.«
»Aber …« Rosas Mutter versuchte, etwas zu sagen, wurde aber von einer ungnädigen Handbewegung des Spitzbärtigen unterbrochen, der wiederholte: »Wenn der besagte Enkel bis allerspätestens zum 15. Juli 1699 nicht hier erscheint.«
Rosa hoffte, dass man ihrer Mutter kein weiteres Wort erlauben würde.
»Aber …«, begann Rosas Mutter wieder, doch der Ratsherr, sichtlich an den Grenzen seiner Geduld angekommen, schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Genug, Weib. Ihr seid entlassen!«
Beklommen folgte Rosa ihrer Mutter durch die langen Flure des Rathauses nach draußen, wo sich die feuchte Hitze, die ihnen entgegenschlug, sofort in ihre Kleider setzte, Haut und Haare durchdrang und jeden Schritt über den mittäglich ruhigen Hauptmarkt mühseliger werden ließ.
Bis sie zu Hause in der Mauergasse am Milchmarkt angelangt waren, fiel kein einziges Wort.
2. Kapitel
S chon als Rosa sich dem Haus näherte, konnte sie Tonis Stimme hören. Beim vertrauten Anblick ihres Elternhauses, in dem sie nun schon seit mehr als zehn Jahren wohnten, zog sich Rosas Brust zusammen. Vorher hatten sie im Haus ihrer Großeltern gelebt, das eines Nachts bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Rosa war darüber nie so traurig gewesen wie ihre Mutter, denn sie hatte sich dort immer wie eine Aussätzige, wie nur geduldet gefühlt.
Doch dieses zweistöckige Fachwerkhaus mit dem Erdgeschoss aus rotem Sandstein, das war ihr Zuhause. Niemals würde sie es verkaufen – der Vater war so stolz darauf gewesen! Auch weil es ganz in der Nähe von Dürers Haus stand, den ihr Vater sehr bewundert hatte. Ihr Vater hatte eigentlich dessen Haus kaufen wollen, aber Dürers Erben hatten es vorgezogen, das Haus völlig herunterkommen zu lassen.
Toni zankte in der Küche, die sich neben der Druckereiwerkstatt im Erdgeschoss befand, gerade die Zwillinge aus, die ihrer Meinung nach die Karotten viel zu dick geschält hatten. Die drei standen um den Herd, auf dem über dem Feuer in einem Kupferkessel schon die Brühe für die Suppe köchelte und einen angenehmen Geruch verbreitete. Als Rosa und ihre Mutter hereinkamen, erstarrten alle drei und sahen erwartungsvoll zu ihnen her.
Dann lösten sich Eva und Maria und stürmten zu ihrer Mutter. »Und? Was hat der Rat entschieden?«, fragten sie wie aus einem Mund, und die Aufregung verlieh den
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