Die Hexengraefin
Lage gewesen, den hochgewachsenen Propst gegen dessen Willen über die Brüstung des steinernen Balkons zu stoßen.
Also? Es müsste ein tragischer Unglücksfall gewesen sein, lautete die offizielle Erklärung des spektakulären Geschehens. Wobei allerdings eine nicht unwesentliche Frage unbeantwortet blieb: Was hatte der Dompropst mitten in der Nacht – es war bereits Anfang Oktober und zu dieser Zeit noch stockdunkel -, auf dem Turm des Münsters gesucht?
Trotz aller Versuche von Seiten der Kirche abzuwiegeln, schossen Spekulationen wild ins Kraut.
»Der Teufel hat den Propst geholt«, lautete schließlich die meistverbreitete Ansicht. Bestärkung fand diese Erklärung in der Behauptung einiger Marktweiber aus dem Breisgau, sie hätten, als der Geistliche herunterfiel, oben hinter der Steinbrüstung eine teuflisch grinsende Gestalt gesehen, die Hörner auf der Stirn gehabt hätte und der eine lange Zunge »gleich einem Ochsen« aus dem Maul gehangen wäre …
Auf Schloss Ruhfeld hörte man sich die Nachricht an, ließ das Gesinde und die Leute in der Ortenau schwatzen und kommentierte im Übrigen das Ganze überhaupt nicht.
So schlief das Gerede bald wieder ein, und niemand war imstande, einen eventuellen Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod des Geistlichen Damian Rothaus und einer ansehnlichen Spende des Grafen Ferfried für die Erweiterung und Verschönerung des Münsters zu sehen.
Nur mit seinem Beichtvater, dem Mönch Ambrosius, hatte der alte Graf vorher wieder einmal ein längeres Bußgespräch geführt. Und diesem Gespräch war es nebenbei bemerkt auch zu verdanken, dass Ferfrieds Spende etwa doppelt so hoch ausgefallen war, als es der Edelmann ursprünglich beabsichtigt hatte …
KAPITEL 100
GESPANNTE ERWARTUNG MACHTE sich neuerdings sowohl auf Schloss Ruhfeld als auch auf dem Hof des Jakob Hagenbusch breit. Jeder, mit Ausnahme von Helene, die auf dem Hof ihres Vaters ruhig ihrer selbst gewählten Tätigkeit als Heilerin nachging, schien in Erwartung eines ganz besonderen Ereignisses zu sein.
Die umfangreichen, medizinischen Kenntnisse der jungen Frau hatten sich in Windeseile in der gesamten Ortenau sowie im Markgräfler Land herumgesprochen. Es kamen sogar Kranke aus den Städten Offenbach und Freiburg, ja, bis aus dem Elsass ließen sich wohlhabende Bürger über den Rhein bringen, um sich diverser Leiden wegen, den Händen der Bauerntochter anzuvertrauen.
Das Helen empfing ihre Patienten jeweils in einem blitzsauberen Zimmer, unmittelbar neben der Wohnstube, hörte sich deren Krankengeschichte an, untersuchte sie, stellte ihre Diagnose und entschied danach über die passende Behandlung.
Aus ihrer Vergangenheit machte sie keinerlei Hehl – im Gegenteil: An einer gut sichtbaren Stelle der Wand ihres kleinen »Behandlungsraumes« hatte sie das kostbare Zertifikat von Oudewater angebracht und dazu eine von ihr selbst angefertigte Tuschezeichnung der berühmten »Hexenwaage«.
Als eines Tages zwei kaiserliche Beamte auf dem Hof erschienen, ließ sie die Herren so lange warten, bis sie mit der Rückenmassage eines älteren Patienten fertig war. Erst danach erlaubte sie dem Jaköble, die beiden zu ihr zu führen.
Sie begrüßte die Männer zwar höflich, konnte sich eine ein klein wenig spöttische Bemerkung allerdings nicht verkneifen, welche sich auf den ständigen Wechsel zwischen schwedischen und österreichischen Herren im Lande bezog.
Was es denn seinerzeit mit ihrer merkwürdigen »Befreiung« auf sich gehabt habe, wollten die Beamten wissen. Aber Helene ließ sich auf nichts ein.
»Tut mir leid, werte Herren. Von der ebenso grausamen wie ungerechten Behandlung im Gefängnis war ich während des Transportes auf diesem Karren nicht bei Bewusstsein. Ich weiß deshalb nicht, was geschehen ist. Ich war damals dem Tode näher als dem Leben und kam erst wieder auf elsässischem Boden zu mir.«
Auch auf hartnäckiges Befragen blieb die junge Frau bei ihrer Aussage, und als die Beamten schließlich versuchten, sie wegen ihrer medizinischen Tätigkeit aufs Glatteis zu führen und anfingen, bei ihren Heilerfolgen von »Zauberei« zu reden, deutete sie nur stumm, aber mit bedeutungsvollem Lächeln auf das Schreiben der Stadtoberen von Oudewater und ließ sich im Übrigen entschuldigen – sie habe viel zu tun und könne daher den Herren leider nicht länger zur Verfügung stehen. Dabei öffnete sie weit die Tür.
»Jakob«, rief sie ihrem Halbbruder zu, »sei so freundlich, die
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