Die Hexenköchin: Historischer Roman (German Edition)
gar vier Ellen hohem Schnee das Umherstreifen zwischen den Bäumen, dann tummelten wir uns mit Spielkameraden in den frei geschippten Gassen unserer gemütlichen Stadt Disburg, deren Holzhäuser im Winter bisweilen so jämmerlich ächzten, als zerfresse ihnen der Frost ihr Gebein. Als ich noch kleiner war, hatte ich die armen, ächzenden Häuser häufig gestreichelt und ihnen Trost zugeredet, mitunter hatte ich ihnen auch kurze Geschichten erzählt, um sie von ihren Schmerzen abzulenken. Heute, mit meinen neuneinhalb Jahren, tat ich das natürlich nicht mehr.
Dietrich war ein Jahr und fünf Monde älter als ich und mir demgemäß in allem um ein Jahr und fünf Monde überlegen. Er konnte geschickter klettern als ich, viel weiter werfen, haltbarere Biberdämme über den Goßbach bauen und war mir in all unseren Unterrichtsfächern weit voraus. Dennoch behandelte er mich wie eine Gleichwertige, wie eine Gleichaltrige. Er war ein echter, mein bester Kamerad. Eins allerdings beherrschte ich ebenso gut wie er, ich redete mir ein, sogar eine Spur eleganter - Ponyreiten. Reiten war mein größtes Vergnügen, zumal ich es nicht nur im Damen- sondern auch im Herrensattel hatte erlernen dürfen. Für eine Maid war das zwar ungewöhnlich, doch Mutter, die für längere Ritte durch die Berge selbst den Herrensitz bevorzugte, hatte es mir gestattet.
Unsere Mutter war die schöne und kluge Gräfin von Disburg.
Ich hatte zwei weitere, fast erwachsene Geschwister. Der Älteste war Johannes, an dessen Reitstiefeln bereits die silbernen Knappensporen klirrten. Doch so rau wir Johannes bei seinen Knappenturnieren auch erlebten, zu Hause benahm er sich liebenswürdig. Selbst mir, der kleinen Dorith, gegenüber, obschon ich für seine ihm alles bedeutende Ritterausbildung nur vorgespieltes Interesse aufbringen konnte, was ihm, wie ich befürchten musste, nicht entging. Jedenfalls war er zu mir zeitweise so reizend, wie sonst niemand und konnte mir in solchen Momenten kaum einen Wunsch abschlagen, am wenigsten, wenn ich ihn bat, mir etwas auf dem Spinett vorzuspielen. Er war ein virtuoser Spinettspieler. Seine Finger entlockten dem Instrument oft solche Zauberklänge, dass mir war, als schwebe unsere gesamte von Blütensträuchern umkränzte Burg in beschwingtem Reigen zum Himmel empor.
Neben Johannes wirkte meine Schwester Eva-Maria, die EM, noch schwerfälliger, als sie ohnehin war. Ihre Erscheinung entbehrte jeder Anmut. Um diesen Mangel zu kaschieren, sprach und bewegte sie sich in letzter Zeit übertrieben geziert, sie, die künftige Gräfin von Disburg. In dieser Rolle übte sie sich seit kurzem. Nur fehlte ihr zu einer Gräfin nach Dietrichs und meinem kindlichen Verständnis aber auch alles. Und angetrieben von meinem vorlauten Mund, ließ ich kaum eine Gelegenheit aus, sie mit ihrer sich mühsam angeeigneten Geziertheit aufzuziehen. So auch, als sie sich am vierten Advent für ein Rendezvous mit ihrem Verlobten hübschte. Ich stand neben ihr in der Garderobe, und als sie sich in ihrem mit rosa Tüllblümchen übersäten Kleid in unserem teuren venezianischen Spiegel begutachtete, deutete ich auf ihren Rocksaum, mit der Behauptung: „Da fehlt aber noch ein Blümelein.“
„Findest du?“
„Und ob, sieht ja richtig armselig aus da unten.“
Ich hatte Mutter nicht eintreten hören, bekam sie jetzt aber schmerzhaft zu spüren. Mich fest am Ohr ergreifend zog sie mich aus der Garderobe, um mir im Flur vorzuhalten: „Du sollst doch die arme EM nicht ständig verulken, Dorith!“
In Erwartung einer Bestrafung blickte ich ängstlich zu ihr hoch und erkannte zu meiner Erleichterung, dass ihre Mundwinkel amüsiert zuckten. - Nochmal Glück gehabt.
Meine Eltern wie auch meine Gouvernante hielten mir häufig mit strengen Worten vor, ich sei für eine Maid viel zu keck. Dietrich, der es schlecht ertrug, wenn ich ausgescholten wurde, hatte mir dieser Tage geraten, mich doch wenigstens bei Tisch zu bezähmen, worauf ich ihn gefragt hatte: „Was soll ich denn tun, wenn mein Mund wieder einen spaßigen Gedanken raussprudelt, ehe ich es verhindern kann?“
„Wenn dir solch ein Gedanke kommt, dann lenke dich einfach ab, das hilft.“
„Gut, werde ich versuchen.“
Insgeheim wusste ich allerdings, dass ich mir diese Unart gar nicht abgewöhnen wollte. Denn mit ihr gelang es mir bei unseren gemeinsamen Mahlzeiten bisweilen, für einen Moment die Aufmerksamkeit auch mal auf mich zu lenken. Auf mich, die Jüngste, zu der sich, bis auf Dietrich,
Weitere Kostenlose Bücher