Die Himmelsbraut
Stückchen nur, wie runtergefallen. Da dacht ich mir, ich kann es aufessen.»
«Weil er Hunger hatte!», fuhr Peter mit geballten Fäusten dazwischen. «Seht ihn doch an, wie dünn er ist. Immer magerer werden die Rationen für uns Familiaren.»
«Hältst du wohl deinen Mund, wenn du nicht gefragt bist!» Die Gesindemeisterin gab ihm einen Klaps ins Genick.
«Ungefragt genommen ist wie gestohlen», beschied Mutter Camilla ungerührt. «Und auf Diebstahl setzt es harte Strafen.»
Zur Überraschung aller trat plötzlich Magdalena aus der Portalhalle.
«Darf ich das Wort ergreifen, ehrwürdige Mutter?»
«Nur zu, Schwester Maria Magdalena.» Die Miene der Priorin wurde augenblicklich freundlicher. Seitdem sie hier in Liebfrauenwalde waren, suchte Mutter Camilla wieder deutlich Magdalenas Nähe, was Antonia nicht entgangen war. Allerdings ohne damit Erfolg zu haben, wie Antonia schien.
«Sag mir, Franz», Magdalena strich ihm über die Stirn, «wo genau hast du das Stücklein Speck gefunden?»
«In der kleinen Kammer gleich links.»
Magdalena nickte. «Dort lagern die Vorräte für die Armenspeisung. Franz hatte Hunger, und die Vorräte sind für die Hungrigen bestimmt.»
Sie wandte sich wieder an die Priorin.
«Der heilige Benedikt sagt über die Alten, Schwachen und Kinder:
Für ihre Nahrung darf die Strenge der Regel nicht gelten, vielmehr schenke man ihnen Güte und Verständnis.
So bitte ich, als Almosenmeisterin, um Nachsicht für diesen Jungen.»
«Als Almosenmeisterin unterstehst du meinem Amt», fuhr Elisabeth dazwischen. «Und für mich ist das eindeutig Diebstahl. Schlimmer noch: Er hat sich an unseren Gaben für die Ärmsten der Armen vergriffen.»
Mutter Camilla hob beschwichtigend die Hände: «Meine geliebten Schwestern in Christo, ist dies etwa der richtige Ort, um über das Vorgefallene zu disputieren? Dazu vor Augen des Gesindes?»
Tatsächlich hatte sich in geraumem Abstand das halbe Klosterpersonal versammelt.
«Ich sage: Nein. Lasst uns also, wie es die Benediktusregel vorsieht, morgen früh im Kapitel darüber beraten und entscheiden. Bis dahin ist Franz, der Hütejunge, in die Büßerzelle zu bringen, bei Wasser und Brot.»
Antonia hatte während dieses Gesprächs ihre Schwester angestarrt, als sei diese eine Traumgestalt. Einen solchen Mut hätte sie ihr niemals zugetraut. Aufrecht, erhobenen Hauptes stand Magdalena vor ihrer Priorin, das zarte Gesicht spiegelte nichts als Entschlossenheit. Vielleicht, dachte Antonia, hatte ja ihre Tätigkeit als Almosen- und Siechenmeisterin sie wieder in diese Welt zurückgebracht.
Doch was dann geschah, war noch viel unglaublicher. Schwester Gerlinda wollte den unglückseligen Franz schon wegführen, da stellte sich Magdalena ihr in den Weg.
«Lasst den Jungen frei, bis wir über ihn entschieden haben. An seiner Stelle will ich in die Büßerzelle gehen und dort für ihn und uns beten. Bitte!»
Verunsichert blickte die Gesindemeisterin zu Mutter Camilla. Als diese nickte, ließ sie den Jungen seiner Wege gehen.
«Danke – habt von Herzen Dank!», stammelte Peter und rannte seinem Bruder nach.
Am nächsten Morgen wurde in der Kapitelsitzung ein für Diebstahl vergleichsweise mildes Urteil gefällt, dank der Fürsprache Magdalenas oder auch dank ihrer Gebete – wer wusste das schon? Vor der versammelten Klosterfamilia, im Hof beim Ziehbrunnen, erhielt Franz drei kräftige Rutenstreiche auf den bloßen Rücken, verabreicht von Gerlinda, und war hernach wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.
Zu dieser Zeit war es auch, dass die Gebote des Schweigens und der Klausur vollends hinfällig wurden. Zu Anfang schoben die Chorfrauen noch Gründe vor, warum sie hinaus auf die Felder und Dörfer mussten oder warum sie ihre Gespräche nicht auf das Parlatorium oder die Zeiten der Erholungspausen beschränken konnten. Mal mussten Bauern bei der Heuernte beaufsichtigt werden, mal musste nach dem Abendgebet oder am heiligen Sonntag eine dringende Unterredung mit der Priorin oder ihrer Stellvertreterin geführt werden.
Als der Sommer dann auch auf dem Waldgebirge warme Tage brachte, verließen die meisten Klosterfrauen die Klausur, wie es ihnen passte, reisten über Land, auf Märkte, zu Verwandtschaft und Freunden oder regelten vor Gericht ihre Rechtsgeschäfte. In Antonia löste dies jedes Mal einen heftigen Widerstreit der Gefühle aus: Einerseits sah sie den Sinn klösterlichen Lebens damit auf den Kopf gestellt, andererseits empfand sie fast so
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