Die Himmelsbraut
jüngerer Bruder, umklammerte keine drei Schritte von ihr entfernt die Säule, auf der eine Skulptur der Schutzmantelmadonna ruhte. Seine schmächtigen Schultern bebten, das schmutzige Gesicht war tränenverschmiert. Was ging hier vor sich?
«Komm sofort her», befahl ihm Schwester Columbina, doch der Junge, der höchstens zwölf Jahre zählte, rührte sich nicht.
«Kommst du endlich?» Die Stimme der Subpriorin überschlug sich. Da erst schien sie Antonia und Euphemia zu entdecken.
«Schwester Euphemia, bring den Jungen zu mir. Und Ihr, Schwester Antonia, geht die Priorin holen.»
Antonia schürzte ihren Rock und rannte hinaus. Auf dem Weg zum Haus der Priorin kam ihr aus Richtung des Pferdestalls Peter entgegen, mit einer Karre Mist hinter sich. Da Antonia die Klausur nur in Ausnahmefällen verließ, war sie ihm seit ihrem Ausflug nach Kaltenmatt nicht mehr begegnet. Jetzt blieb er stehen und begrüßte sie mit einem freudigen Lächeln. Für einen kurzen Moment klopfte ihr Herz schneller.
«Dein Bruder steckt in Schwierigkeiten.»
«Franz?» Das Lächeln verschwand.
«Er ist in der Kirche und weint. Was kann er angestellt haben?»
Ohne eine Antwort zu geben, ließ Peter die Karre stehen und rannte hinüber zum Kirchenportal. Antonia beeilte sich, ins Priorat zu kommen, jenes hübsche, gelbe Haus, das vor kurzem neue Fenster bekommen hatte. Im Erdgeschoss befanden sich die Gästezimmer und der Speiseraum, im oberen Geschoss wohnten Mutter Camilla und Elisabeth. Die Tür war, wie immer tagsüber, unverschlossen, und Antonia stürmte hinein. Aus dem Speisezimmer hörte sie das Lachen ihrer Priorin. Die Stunden zwischen Kapitelsitzung und dem Chorgebet der Sext waren eigentlich der Arbeit vorbehalten, doch was Antonia vorfand, nachdem Marthe auf ihr Klopfen hin die Tür geöffnet hatte, sah nicht eben danach aus.
Am Tisch saßen der Klosterschaffner Magirus Eckstein, ein fremder, wie ein Pfau herausgeputzter Edelmann, und ihnen gegenüber die Priorin mit einer noch sehr jungen, bildhübschen Jungfer eng an ihrer Seite. Camilla von Grüningen hielt dem Mädchen den Arm um die Schultern gelegt, ihre Wangen waren gerötet, die Augen blitzten. Entweder vor Freude über ihre Gesellschaft oder aber vom Wein, der in zwei halbleeren Glaskaraffen auf dem Tisch stand.
«Verzeiht die Störung, ehrwürdige Mutter. Aber Schwester Columbina bittet Euch in die Kirche. Es ist etwas mit dem Hütejungen Franz, der sich wohl dorthin geflüchtet hat.»
«In der Tat missfällt mir diese Störung aufs äußerste, Schwester Antonia.» Ihr voller runder Puppenmund zog sich empört zusammen. «Wir sind hier inmitten einer wichtigen Beratung. Um die Angelegenheiten der Familiaren hat sich gefälligst Schwester Gerlinda zu kümmern.»
Damit hätte es Antonia gut sein lassen können. Angesichts der heiteren Stimmung, in die sie hineingeplatzt war, und das Bild des weinenden Franz vor Augen, stieg indessen ein gewaltiger Ingrimm in ihr auf.
«Schwester Columbina hat ausdrücklich nach Euch geschickt, und so vermag ich nicht ohne Euch in die Kirche zurückzukehren.»
«Nun gut.» Mutter Camilla ließ das Mädchen neben sich los. «Ihr andern müsst entschuldigen, da meine Pflicht als Klostervorsteherin ruft. Wir sehen uns dann spätestens zum Mittagsmahl. Marthe, du sorgst für unsere lieben Gäste.»
«Sehr wohl, Mutter Camilla.»
Marthe knickste, und Antonia fiel auf, dass die Magd ein nagelneues Kleid trug. Es war himmelblau und umschloss eng ihren knabenhaften Leib. Was für ein unschicklicher Aufzug für eine Dienstmagd.
Kaum waren sie aus dem Haus getreten, sahen sie schon den Menschenauflauf vor dem Kirchenportal. Die Küchen- und die Gesindemeisterin hielten den heulenden Jungen rechts und links fest im Griff, während Peter in ebendiesem Augenblick vor Schwester Columbina in die Knie ging. Im Hintergrund drängten sich in der Portalhalle, noch im Schutze der Kirche, die anderen Chorschwestern.
«Was ist das hier für ein Durcheinander?»
«Franz hat aus der Vorratskammer ein Stück Speck gestohlen.»
Mutter Camilla baute sich vor dem Jungen auf. «Sieh mich an! Ist das wahr?»
Franz hob den Kopf. Ganz deutlich erkannte Antonia den feuerroten Abdruck einer Hand auf seiner Wange. Irgendwer hatte da bereits herzhaft zugeschlagen.
«Ich – ich sollte dem Fuhrmann helfen, die Krautfässchen in den Keller zu rollen.» Er wirkte plötzlich erstaunlich ruhig. «Und da lag im Vorratsraum der Speck auf einem Sack. Ein kleines
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