Die Himmelsbraut
des Jahres. Er glaubte das Schnauben von galoppierenden Pferden zu hören, ein helles Lachen.
Unwillkürlich drehte er den Kopf von ihr weg.
«Ist was mit dir?», fragte sie. Ihre Hand wanderte seinen Rücken entlang wie ein kleines, leichtes Tier, dann seine Schenkel hinauf.
Phillip schüttelte den Kopf. Er hätte es gern anders gehabt, doch sein Körper fühlte sich an wie ein totes Stück Holz. Marie richtete sich auf.
«Schade, Phillip.» Sie strich ihm übers Haar. «Dein Herz ist woanders.»
«Es tut mir leid», gab er leise zurück, stand auf, klopfte sich das Stroh von den Kleidern und ging ohne ein weiteres Wort hinaus auf den Hof. Er wusste auch nicht, was mit ihm geschehen war, schließlich hatte er die Begegnung mit Marie kaum erwarten können. Er wusste nur, dass er sich einsam fühlte, sehr einsam.
Unschlüssig lauschte er auf die Stimmen aus dem Wirtshaus, dann machte er sich auf den Weg in sein Nachtquartier. Ihm war klar, dass Egbert nie wieder an die Freiburger Universität zurückkehren würde. Nur noch ein Tag blieb ihm mit seinem besten Freund. Dem einzigen Freund, den er hatte. Er konnte Egberts Lust auf Abenteuer und seinen Drang, der engen Welt der Freiburger Universität zu entfliehen, verstehen. Nur wurde damit das Gefühl, alleingelassen zu sein, kein bisschen erträglicher.
35 Liebfrauenwalde, Spätherbst 1524
D en albtraumhaften Anblick in jener Nacht würde Antonia ihr Lebtag nicht vergessen.
Ein Herbststurm hatte an den Läden gerüttelt, sie hatte schlecht geschlafen, dabei wieder einmal von der Büßerzelle geträumt und war schließlich aufgestanden, um sich anzukleiden. Ihr war danach, noch vor dem Morgenlob in aller Stille zu beten. Nicht auf der Empore, sondern unten im Hauptchor zu Füßen der Schutzmantelmadonna, jener schlichten Holzfigur mit ihrer abgeblätterten Farbe, die ihr von allen Darstellungen die liebste war. In Marienau war es verboten gewesen, einfach so das Kirchenschiff zu betreten, doch hier war das Ordensleben längst aus den Fugen geraten.
Am Ende des Kreuzgangs vernahm sie Magdalenas Stimme. Sie blieb stehen. Die Tür zum Altarraum war nur angelehnt, und so verstand sie fast jedes Wort.
«Dein Angesicht, Allmächtiger, will ich suchen … Hab Erbarmen und erhöre mich, denn ich habe wider deine Gebote gesündigt …» Ein unterdrücktes Stöhnen folgte. «So soll das, was ich hier leide, deinem Namen zu höchster Ehre dienen, mir aber als Buße für meine Sünden. O Jesus, o Jesus!»
In böser Vorahnung schob Antonia die Tür auf. Was sie dann vor dem Hochaltar erblickte, im Schein zahlreicher Kerzen, raubte ihr den Atem:
Splitterfasernackt stand ihre Schwester vor den Stufen des Altars, Arme und Gesicht zur Decke gereckt, jede einzelne Rippe zeichnete sich auf ihrem bleichen, abgemagerten Körper ab. Antonia hatte einmal auf einer Flugschrift eine Totentanzdarstellung gesehen, auf der ein klappriger Sensenmann eine junge Bauersmagd und einen Greis tanzend mit sich genommen hatte. Daran erinnerte sie Magdalenas Anblick, nur dass der Tod vor ihren Augen weiblich war, mit langen goldblonden Haaren, und dass er nicht tanzte.
Noch verstörender aber war, dass Magdalena nicht allein vor dem Altar stand. Mutter Camilla klebte förmlich an ihrer Seite, die Arme um Magdalenas Hüfte geschlungen, den Kopf an ihren Busen geschmiegt, und redete mit abgehackter Stimme auf sie ein: «Denk an die selige Angela von Foligno … Wie sie am Kreuze stand und ihre Kleider ablegte und sich dem Herrn darbot … Wie sie ihm versprach, ihm ihre Keuschheit zu wahren … Sie ihm allein zu schenken …»
Als die Priorin Antonia gewahr wurde, hielt sie mit einem Aufschrei inne.
«Was tust du hier, in drei Teufels Namen! Geh hinweg!»
Magdalena sank kraftlos in sich zusammen, und Antonia begann am ganzen Körper zu zittern. Schnell machte sie auf dem Absatz kehrt, hetzte den dunklen Kreuzgang entlang, als sei der Leibhaftige hinter ihr her, raste die Treppe hinauf in ihre Kammer und warf sich aufs Bett. Dort zog sie die Decke über sich, um das Zittern und die Kälte zu bekämpfen, versuchte sich zu beruhigen, versuchte zu begreifen, was ihre Augen gesehen hatten.
Was um Himmels willen ging da vor sich zwischen der Priorin und ihrer Schwester? Hatte sie Mutter Camilla nicht erst die Nacht zuvor in der Nebenkammer flüstern hören? Hing mit alldem womöglich zusammen, dass Magdalena inzwischen wieder einige Male in ihre Zustände geraten war, vor allem während der
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