Die Himmelsbraut
heiligen Messe, vor versammeltem Volk?
Da plötzlich kam Antonia ein Verdacht: Es war Camilla von Grüningen, die ihre Schwester in diese schmerzvollen Zustände trieb, wodurch sich seit einigen Wochen wieder das Kirchenschiff füllte. Je näher Weihnachten rückte, desto mehr Menschen strömten in die Messe – von weit her und bei jedem Wetter. Überall in der Gegend nämlich ließ die Priorin verbreiten, dass Magdalena kraft ihres Glaubens Gott schauen könne, dass sie im Augenblick ihrer Visionen von Licht umstrahlt sei, ja sogar drei Schuh über der Erde schwebe. Auf diese Weise wollte man wohl einen Wallfahrtsort aus Liebfrauenwalde machen und den Opferstock füllen, denn angesichts so viel Heiligkeit aus nächster Nähe gab jeder gern.
Doch dass die Priorin die erbärmliche Verfassung ihrer Schwester so schamlos ausnutzte, war nur das eine. Das andere ging über Mutter Camillas Bestreben, Liebfrauenwalde mit einer leibhaftigen Visionärin berühmt oder gar reich zu machen, hinaus. Es hatte mit ganz und gar unfrommer Lust zu tun, mit Wollust nämlich und Unkeuschheit. Ihr widerwärtiger Traum mit der Priorin, den sie vor Jahren geträumt hatte, kam ihr in den Sinn und auch wie Camilla von Grüningen sie auf den nackten Hintern geschlagen hatte. Antonia spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.
Innerlich zitterte sie noch immer, als das Glöckchen zum Morgengebet rief. Wem nur konnte sie sich anvertrauen? Euphemia? Oder doch besser Ursel, der handfesten Laienschwester, die schon so vieles in ihrem Leben gesehen und erlebt hatte? Aber was, wenn sie vollkommen falschlag in ihren Vermutungen? Sie wünschte, Vrena wäre noch bei ihr, mit ihr hätte sie sich offen besprechen können.
Vrena! War da nicht auch etwas Seltsames gewesen zwischen ihr und der Priorin? Dunkel erinnerte Antonia sich wieder, wie Vrena kurz vor ihrem Freitod von einem dämonischen Wesen in ihrem Innersten gesprochen hatte, das es zu bekämpfen galt. Erinnerte sich, wie verändert ihr Wesen nach jener letzten Begegnung mit Mutter Camilla gewirkt hatte. War da am Ende etwas so Abscheuliches vorgefallen, dass Vrena als einzigen Ausweg den Freitod gesehen hatte?
Verstört kroch sie aus ihrem Bett, strich sich die Kleidung glatt und machte sich auf den Weg zur Nonnenempore. Das Morgengebet hatte bereits begonnen. Die Priorin strafte sie mit einem wütenden Blick, der wohl weniger ihrem Zuspätkommen als ihrem überraschenden Erscheinen vorhin im Altarraum galt. Magdalena war nicht unter den Nonnen. Es hieß, dass sie sich in der Stille ihrer Kammer erhole, wie immer nach ihren Visionen.
Für den Rest des Tages versenkte sich Antonia in den klösterlichen Ablauf von Gebet und Arbeit. Da es in ihrer kleinen Bibliothek nicht mehr allzu viel zu tun gab, half sie an Hildes Seite im Garten mit. Noch vor dem Einschlafen schwor sie sich: Sollte sie noch einmal Mutter Camillas Stimme aus der Nachbarkammer hören, so würde sie nicht zögern, dort nach dem Rechten zu sehen. Ganz gleich, was für Folgen dies nach sich ziehen würde.
Zwei Tage später, am Sonntag Sankt Katharinen, erlitt Magdalena während des Hochamts ihren nächsten Zusammenbruch. Für diesmal indessen überraschte sie den Konvent und die große Schar der Kirchgänger mit etwas geradezu Unerhörtem, einer Weissagung nämlich, einer göttlichen Offenbarung.
«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes», hatte sie mit heller Stimme nach dem Schlusssegen ausgerufen. «Gott der Allmächtige hat mich gesandt, euch zu verkünden, dass am Tage von Jesu Kreuzigung auch über uns großes Unheil kommen wird, mit Eisen, Feuer und Blut!»
Anschließend verlor sie das Bewusstsein. Doch anders als sonst lag sie nicht ruhig, mit ausgebreiteten Armen vor dem Altar. Ihr Atem ging vielmehr stoßweise, wurde immer wieder unterbrochen von Schluchzern und krampfhaften Bewegungen ihrer Glieder.
«Lass mich!» Antonia schlug Agnes’ Arm, der sie festhalten wollte, weg und stürzte zu ihrer Schwester.
«Sie muss auf die Siechenstation», rief sie ihren Mitschwestern zu und versuchte, Magdalenas Oberkörper aufzurichten. Er glühte vor Hitze.
«Was erlaubst du dir?» Empört über Antonias Eigenmächtigkeit riss Mutter Camilla sie von Magdalena weg. Aber Antonia war mittlerweile alles gleich – Gehorsamsgelübde hin oder her. Sie entzog sich dem Griff der Priorin und warf sich über Magdalena wie eine Löwenmutter, die ihr Junges schützte.
Ein Paternoster lang herrschte völlige
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