Die Himmelsbraut
so klar wie streng geregelte Tagesablauf geriet nun vollends durcheinander. Einmal konnten die Mädchen beobachten, wie ihre Magistra und die Priorin im Kreuzgang aneinandergerieten und sich schließlich sogar anschrien.
«Es wird allerhöchste Zeit, dass die Mutter Oberin zurückkommt und dieses Sodom und Gomorrha beendet», schimpfte Mutter Petronella, als sie kurz darauf mit dem Unterricht begann. Für diesmal musste Antonia ihr recht geben.
Sehr genau hatte sie beobachtet, wie ihre Schwester der Priorin in letzter Zeit aus dem Weg ging. Jedem Blick der Priorin wich sie aus, vermied es, ihr allein zu begegnen. Als sie einmal von ihr zu einem Gespräch unter vier Augen ins Parlatorium gebeten wurde, schützte Magdalena Bauchschmerzen vor. Nur allzu gern hätte Antonia mit ihrer Schwester hierüber geredet, doch Magdalena hielt sich nach wie vor, als eine der ganz wenigen, an das klösterliche Schweigegelübde. Dass Camilla von Grüningen diese Zurückweisung seitens eines ihrer Lieblinge empörte, war nicht zu übersehen. Sie lief fortan mit mürrischer Miene durchs Kloster, und ihre schlechte Laune bekam ausgerechnet Vrena besonders zu spüren.
«Ich weiß nicht, was ich Mutter Camilla getan habe», beklagte sich Vrena. Sie und Antonia waren eben dabei, im Schlafsaal die Betttücher abzuziehen, um sie in die Wäscherei zu geben. «Seit Tagen biete ich ihr meine Hilfe an, gerade jetzt, wo alles auf Vordermann gebracht werden soll. Aber sie hört und sieht mich nicht mehr, nur noch deine blöde Schwester scheint ihr was zu bedeuten. Dabei wäre es mir so wichtig, mit ihr …» Sie brach ab. In ihren Augen standen plötzlich Tränen.
Antonia sah sie bestürzt an. «Was ist mit dir?»
«Ach, nichts weiter.»
«Nun sag schon. Du kannst doch auch mit mir reden, wir sind Freundinnen.»
Vrena schüttelte den Kopf. «Das ist nicht dasselbe.»
Besorgt nahm Antonia ihr das Bettlaken aus der Hand und zog sie in die Arme. Sie erschrak, als Vrena jetzt tatsächlich zu schluchzen begann. Noch nie hatte sie Vrena weinen gesehen.
Sie wartete, bis die Freundin sich beruhigt hatte, und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.
«Geht’s wieder besser?»
«Ja. Entschuldige, ich führ mich auf wie ein Kleinkind. Du musst nicht glauben, dass ich auf deine Schwester eifersüchtig wäre. Es ist nur, dass … Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst, aber Mutter Camilla war mir durch diese Gespräche fast so was wie eine mütterliche Freundin geworden, eine Ratgeberin, bei der ich mich verstanden und aufgehoben gefühlt habe. – Ich weiß, sie kann manchmal sehr streng sein, aber ich habe auch eine andere Seite an ihr kennengelernt, etwas sehr Weiches, Empfindsames.»
«Ehrlich gesagt: Ich traue ihr nicht.» Antonia ahnte, wie hart das in Vrenas Ohren klingen musste.
«Du bist nur neidisch, weil du nie dabei warst. Und jetzt lass mich in Ruhe.»
Tagelang sprach Vrena daraufhin kein Wort mit ihr und litt stumm vor sich hin. Antonia konnte ihr Leid nicht länger mit ansehen. Obschon ihr die Sache gehörig gegen den Strich ging, fasste sie sich ein Herz und sprach die Priorin an. Es war nach dem Mittagessen, an einem heißen Tag Anfang August. Camilla von Grüningen saß im schattigen Lesegang auf einer Bank und starrte zu Boden. Neben ihr lag ein aufgeschlagenes Buch. Antonia fiel auf, dass die rundliche Priorin einiges an Gewicht verloren hatte. Es schien ihr nicht gutzugehen.
Sie beugte das Knie: «Verzeiht, hochwürdige Mutter Priorin, wenn ich Euch störe.»
Die Priorin zog die Brauen hoch. «Was gibt’s, Schwester … Schwester …»
«Antonia. Schwester Antonia von den Novizinnen.»
«Ich weiß doch, ich weiß.» Sie wirkte zerstreut. «Nun sprich.»
Antonia hatte sich ihre Worte genau zurechtgelegt. «Der heilige Benedikt sagt in seinem 31 . Kapitel:
Denn niemand soll verwirrt und traurig werden im Hause Gottes
. – Eine meiner Gefährtinnen aber ist verwirrt und traurig.»
«Da hast du unsere
regula benedicti
aber genauestens im Kopf.» Das klang weniger spöttisch als vielmehr müde. «Wer ist diese Gefährtin?»
«Meine Mitschwester Vrena. Etwas lastet ihr auf der Seele, und ich glaube, ein Gespräch mit Euch könnte ihr helfen.»
«Soso, das glaubst du also.»
Sie schwieg, und Antonia wagte nicht, die Stille zu durchbrechen.
«Hat
sie
dich geschickt?»
«Nein. Sie weiß nichts davon.»
«Richte deiner Mitschwester Vrena aus, dass ich sie heute nach der Vesper im Andachtsraum der Äbtissin
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