Die Himmelsbraut
Buchmeisterin wusste, um keine allzu große Bibliothek. So besaßen die Benediktiner zu Weingarten an die tausend kostbare Handschriften und ebenso viele Druckwerke neuerer Zeit, desgleichen die Mönche in Zwiefalten und auf der Insel Reichenau.
Sie stellte sich vor, wie hier in diesem Raum einstmals die Schreiberinnen und Buchmalerinnen mit gebeugtem Rücken an den Tischen gesessen und in mühevoller monatelanger Arbeit auf makellosem Pergament Seite für Seite Bücher kopiert hatten, die Buchstaben gestochen scharf in gotischer Textura. Wie sie in meisterhaftem Geschick die Initialen der einzelnen Kapitel ausgestalteten, der hohen Kunst der Miniaturmalerei frönten, in kostbaren Farben, ja sogar in Silber und Gold. Heutigentags entstanden die Bücher in den Druckpressen der großen Städte und reichen Klöster, beschrieben von metallenen Lettern statt geschickten Händen, auf Papier statt Pergament.
Das laute Knarren der Tür riss sie aus ihren Gedanken, als die Buchmeisterin eintrat. Sie war eine zarte Frau, die bei ihrer Arbeit kleine runde Augengläser trug.
«Hier, Schwester Antonia, das hat mir unsere Mutter Oberin für dich gegeben. Deine letzte große Aufgabe.»
Sie legte ein schweres Buch auf Antonias Pult.
Vitae sororum
prangte in großen goldenen Lettern auf dem Ledereinband. Antonia kannte das Buch. Es enthielt die Lebensgeschichten einiger herausragender Marienauer Nonnen.
«Keine Sorge – du musst nicht das gesamte Schwesternbuch übersetzen. Nur die Kapitel, in denen Mutter Lucia ein Bändchen eingelegt hat.»
«Schade», entfuhr es Antonia. Und das meinte sie durchaus ernst.
Sie liebte ihre Arbeit so sehr, dass sie sich schon vor dem Augenblick fürchtete, wenn sie mit dem Marienauer Schwesternbuch fertig sein würde. Weitere Übersetzungen waren nämlich nicht vorgesehen. Als sie sich, während draußen die ersten Herbststürme an den Fensterläden rüttelten, ans letzte Kapitel machte, fragte sie sich bang, was ihr denn dann noch zu tun bleiben würde.
Diese Frage beantwortete sich von ganz unerwarteter Seite. Es hatte mit ihrer Schwester zu tun, die ihr schon lange keine leibliche Schwester mehr war, fremder sogar als die anderen Frauen hier in Marienau. Über all die Arbeit während der letzten Monate hatte Antonia sie kaum noch wahrgenommen, und so war ihr auch nicht aufgefallen, dass aus der frommen Novizin eine vom Glaubenseifer Besessene geworden war – schlimmer noch als einstmals auf Holderstein, wo das Ganze immerhin noch etwas Kindliches gehabt hatte und wo man dachte, es würde vergehen, spätestens mit ihrem Eintritt ins Kloster. Aber das Gegenteil war der Fall.
Stundenlang konnte Magdalena sich in die Leiden Christi versenken, sei es vor dem Kruzifix in ihrer Zelle, sei es vor dem Andachtsbild im Nonnenchor. Mit entrücktem Blick kniete sie auf dem Boden, warf sich irgendwann darnieder und stöhnte leise. Anfang November fing es an, dass sie sich wieder zu geißeln begann, heimlich und des Nachts, so wie damals auf Holderstein. Ihre unterdrückten Schmerzensschreie drangen aus der Nachbarzelle an Antonias Ohr und ließen sie nicht mehr schlafen. Nachdem dies zwei- oder dreimal geschehen war, passte Antonia sie mittags im Kreuzgang ab.
«Warum um Himmels willen fängst du damit wieder an? Warum findest du keinen andern Weg zu Gott, als dich zu quälen?»
Magdalena senkte die Stimme, und ein Anflug von Röte breitete sich über ihre bleichen Wangen. Ihre Augen glühten.
«Du weißt nicht, wovon du sprichst. Es ist keine Qual, sondern seligster Genuss, eins zu werden mit den Leiden Christi. Da endlich löst sich die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Leib und Seele auf. Alles wird so wunderbar leicht, hat man sich erst mal von den Fesseln des Irdischen befreit.»
Als dann nach Sankt Martin die weihnachtliche Fastenzeit begann, übertrieb sie es auch hier: Statt der üblichen Kost aus Brei und Gemüse beschränkte sie sich auf Wasser und Brot, und an den Freitagen nahm sie gar nichts zu sich. Ihre Tracht begann über dem mageren Körper zu schlottern, doch ihr Gesicht strahlte mit einem immer gleichen, feinen Lächeln. Wie eine Maske, dachte Antonia.
Anders als früher suchte Magdalena nun im Parlatorium das Gespräch mit den Frauen, sprach mit jeder der Schwestern, die es hören wollte, über ihre Erlebnisse mit Gott und Jesu Christi, über die beglückenden Visionen, die nun häufiger über sie kämen. Sie sah sich tatsächlich als auserwählt, als
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