Die Himmelsbraut
engen, niedrigen Raum gewöhnt hatte, der nur mit einem Schemel, einem Bett, einer kleinen Truhe und einem hölzernen Kruzifix bestückt war. Einstmals musste das Nonnendormitorium ein großer Schlafsaal für alle gewesen sein, doch irgendwann hatte man ihn durch hölzerne Trennwände in mehr oder minder winzige Zellen unterteilt.
Sie dachte daran zurück, wie sie hier in den ersten Wochen nach der Profess oft ruhelos auf und ab geschritten war. Zu groß waren Trauer und Enttäuschung über Phillips Treulosigkeit gewesen, und ihr Leben schien ganz und gar verpatzt. Oft genug hatte sie sich bei Fluchtgedanken ertappt, ohne zu wissen, wie sie so etwas anstellen sollte oder was danach sein würde. Aus anderen Klöstern hatte sie gehört, wie flüchtige Nonnen wieder aufgegriffen, eingekerkert und hart bestraft wurden. Schließlich hatte sie erkannt, dass kein Weg zurückführte, war ruhiger geworden und hatte sich ins Unvermeidliche gefügt. Denn wo sollte sie sonst hin, und was sollte sie tun? Und gab ihr die Klostergemeinschaft nicht auch durchaus Halt und Heimstatt? Am Ende hatte sie sogar Agnes verziehen, die sie im Weinberg so treulos an Mutter Camilla verraten hatte.
Sie erhob sich, glättete Gewand und Schleier und machte sich auf den Weg ins Refektorium. Dabei war sie freudig gespannt, was Mutter Lucia ihr zu sagen hatte.
«Ich habe deinen Aufsatz aus deiner Zeit als Novizin nicht vergessen. Jener über die Bedeutung des Lateinischen für das geistliche Leben.» Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Äbtissin. «Du schriebst, dass zu überlegen sei, ob die heiligen Texte für den Gottesdienst nicht besser ins Deutsche zu übersetzen seien. – Nun, so weit will ich dir nicht folgen. Indessen gebe ich dir in einem recht. Tatsächlich entgeht vielen Gläubigen der Sinn tröstlicher oder belehrender Worte, da sie des Lateinischen nicht mächtig sind. Auch in unserem Konvent ist das so. Daher möchte ich, dass wenigstens die Tischlesung wieder verstanden wird. Und du sollst mir hierbei helfen, Schwester Antonia.»
«Ich, ehrwürdigste Mutter?»
«Ich möchte, dass du unser Büchlein mit den Mariengeschichten sowie die Benediktusregel ins Deutsche überträgst. Der Buchmeisterin werde ich Bescheid geben, dass sie dir in der Bibliothek einen Arbeitsplatz einrichtet.»
Antonia errötete vor Freude über diese ehrenvolle Aufgabe. Ergeben beugte sie das Knie und bedankte sich.
Gleich am nächsten Tag trug die Äbtissin ihr Vorhaben in der morgendlichen Kapitelsitzung vor. Da es sich um eine minder wichtige Angelegenheit handelte, wurden nur die Älteren um Meinung und Rat gefragt. Ausgerechnet am Widerstand der Priorin jedoch, die beim Gebrauch des Lateinischen mannigfache Fehler machte, wäre das Ganze ums Haar gescheitert. Am Ende aber stimmte auch Camilla von Grüningen mit verdrießlicher Miene zu, und Antonia wurde von den üblichen Arbeitsstunden befreit, um sich stattdessen ihren Übersetzungen zu widmen. Auch des Sonntags, da das Schreiben und Lesen geistlicher Texte als Gottesdienst galt.
24 Abtei Marienau, Spätsommer bis November 1522
A ntonia rieb sich die Augen und legte die Feder zur Seite. Es war ein sonniger Spätsommertag, in der Zeit zwischen Non und Vesper. Das siebte Kapitel der Benediktusregel würde sie morgen beginnen, denn es war sehr lang.
Ihr Blick wanderte durch den Raum. Die Schreibstube befand sich zusammen mit der Bibliothek in einem Anbau zwischen Ostflügel und Äbtissinenhaus. Es war ein hohes Zimmer mit Gewölbedecke und zwei Fenstern, die jetzt, in der hellen Jahreszeit, genügend Licht spendeten. Für den Winter standen in einem Schränkchen Talglichter und Kerzen bereit. Hinter den Schreibpulten befand sich ein mächtiger Eichenholzschrank, der mit zwei Schlössern versehen war. Hierin wurden die wertvollsten Handschriften aufbewahrt, aber auch die alten Klosterchroniken, Amtsbücher und jene heidnischen Werke griechischer und römischer Autoren, die zu lesen nur einigen wenigen erlaubt war. Die frei zugänglichen Werke, wie Bibel oder Heiligenlegenden, Schriften der Kirchenväter, Liederbücher oder Breviere, standen in Regale gereiht oben auf der kleinen Empore, die über eine Holzstiege erreichbar war.
Für Antonia war dieser Raum die Schatzkammer des Klosters. All das Wissen, all die zu Schrift gewordenen Gedanken, die hier gehütet wurden! Die Vorstellung machte sie schwindlig. Dabei handelte es sich bei ihnen in Marienau, wie sie von der freundlichen
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