Die Himmelsleiter (German Edition)
Karriere des Bruders, wie er Altomonte in Santa Cruz kennengelernt und wie ihn dieser später ans European Laboratory nach Genf geholt hatte. Ihren Mann hatte sie bei einem ihrer Besuche in der Schweiz kennengelernt.
Ich h örte nur mit halbem Ohr zu. Während ich in regelmäßigen Abständen fast mechanisch an meinem Kaffee nippte, beobachtete ich sie. Tatsächlich war es mehr als das. Ich ruhte mich regelrecht auf ihr aus. In der wohligen Wärme des vormittäglichen Hauses kroch eine angenehme Schwere an mir hoch. Ohne viel zu denken, ließ ich ihre Stimme auf mich einwirken, nahm den Ausdruck ihres Gesichtes, das Spiel ihrer Hände, ihre ganze Gestalt in mich auf, als handele es sich dabei um etwas, was mich satt und zufrieden machen könnte. Vor mich hin träumend ertappte ich mich, wie ich mir ihren Busen vorstellte, die Kuppen ihrer Schultern, die helle Haut ihres Bauches. Vielleicht hätte mich meine nunmehr geweckte Vorstellungskraft in heiklere Gefilde getragen, hätte mich ihre Stimme nicht in eine wirklichere Welt zurückgeholt.
"Mister Heilant?" Sie sah mich halb fragend, halb besorgt an. So wie eine stehengebliebene Uhr den verwirrten Blick auf sich zieht, mochte ihr pl ötzlich meine Abwesenheit aufgefallen sein.
"Ich habe mir gerade vorgestellt, was sie gesagt haben", behauptete ich geistesgegenw ärtig.
Das schien sie zu freuen. Dann flocht ich meinerseits eine passende Anekdote aus der Zeit meines ersten Besuches bei Altomonte in Genf ein, eine harmlose, wenn auch lustige Geschichte, bei der falsch verstandenes Schwyzerd ütsch zu einer Verwechslung geführt hatte. Mit ihr zu plaudern, war fast genauso angenehm, wie ihr zuzuhören. Dennoch, irgendwann musste ich auf mein eigentliches Anliegen zurückkommen.
"Karen", sie hatte mich aufgefordert, sie so zu nennen, "überlegen Sie bitte noch einmal! Ist Ihnen etwas Seltsames oder Außergewöhnliches am Verhalten Ihres Bruders aufgefallen? War er in letzter Zeit anders als sonst? Machte er irgendwelche Andeutungen? Alles, wirklich alles könnte uns weiterhelfen. Wir haben keine anderen Anhaltspunkte", fügte ich fast beschwörend hinzu.
"Das habe ich mich in den letzten Tagen schon selbst mehr als einmal gefragt." Sie dachte lange nach und sch üttelte dabei immer wieder bekümmert zu Kopf. "Wissen Sie, im Nachhinein erscheint vieles bemerkenswert. Kleinigkeiten, ein einzelnes Wort, ein Gesichtsausdruck oder eine Geste, solche Dinge fallen einem ein, und man denkt: Das war ungewöhnlich, wieso ist mir das nicht gleich aufgefallen? Doch dann kommen Zweifel. Man braucht nur ganz nahe heranzugehen, und man findet immer etwas." Sie presste die Lippen zusammen. "Es wäre so einfach, zu sagen: ja, er war anders als sonst. Nervöser vielleicht, angespannter. Aber Kenneth war oft so, wenn er an etwas Wichtigem arbeitete. Schon früher stand er Tag und Nacht im Labor. Manchmal musste er regelrecht zum Essen getragen werden." Sie lächelte. "Vor einem wichtigen Experiment schlief er schlecht. Er sprach von nichts anderem."
"Hat er auch diesmal etwas über das Experiment erzählt?"
"Es war ein paar Wochen vor dem … Unfall. Es war Thanksgiving ." Sie sah hinüber zum Esstisch, der durch eine breite Schiebetür getrennt an der Fensterfront zur Gartenterrasse stand. Ein runder blankpolierter Tisch aus Birnenholz mit strengen hochlehnigen Stühlen drumherum. Wie sie, stellte ich mir die Kinder, die Gäste vor, die festliche Ausgelassenheit an einer überbordenden Tafel. Dann sah sie mich wieder offen an und lachte. "Es gab so viel zu tun, wissen Sie … Ich habe nur ein paar Worte mit ihm gewechselt. Und bei Tisch hat er wenig gesagt. Mein Mann saß später noch mit ihm zusammen." Sie dachte nach. "Ja, da fällt mir ein, Alain, mein Mann, meinte noch: 'Da scheint eine große Sache zu laufen. Kenny wollte aber nicht so recht mit der Sprache raus.'"
Als ihr Blick wieder einmal die Jugendstiluhr auf der Anrichte streifte, beschlo ss ich aufzubrechen. Gerne hätte ich meinen Besuch noch weiter ausgedehnt, hätte mich mit ihr in den Niederungen des frühen Nachmittags verloren. Längst ging es mir nicht nur um meine Recherche. Doch spürte ich, wie ich mich den unausgesprochenen Grenzen dessen näherte, was die Situation noch als angemessen erscheinen ließ. Keinesfalls wollte ich sie verstimmen.
In der T ür nahm ich ihre Hand. Sie war warm und fest. Manchmal denke ich, dass ich einen Menschen erst kenne, wenn ich ihn berührt habe.
"Ich hoffe, Sie finden
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