Die Himmelsleiter (German Edition)
wiederzusehen.
Äußerlich glich Chloé in Größe und Gestalt, dem Ton ihres Haars und ihrer Haut, in allem, was einer genauen Beschreibung zugänglich war, der Mutter. Selbst den Schwung ihrer Brauen, der beiden dünnen Striche, die eine stille Nachdenklichkeit auf ihrem Gesicht zauberten, kannte ich aus jener anderen Zeit. Nur ihre Augen waren eine Winzigkeit heller als die Alessandras, so als habe sich die Natur nach langem Hin und Her zu einem kleinen Zugeständnis an den Vater durchgerungen.
Dennoch war Chlo é unverwechselbar sie selbst. Sie war viel erwachsener, als es Alessandra in ihrem Alter gewesen war, erwachsener sogar, als es Alessandra jemals gewesen war. In ihrem goldgelben Kostüm, den hochhackigen Schuhen, dem teuren Wollmantel, den sie weit aufgeschlagen hatte, wirkte sie damenhaft, weltgewandt, fast distanziert. Daran änderte auch der Pferdeschwanz nichts, zu dem sie ihr Haar mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Sie war insgesamt reifer, ruhiger. Ihrer Stimme fehlte das Anklagende, das Entblößende, das der der Mutter eigen gewesen war.
W ährend wir uns begrüßten, auf eine Sitzgruppe zugingen und jene Fragen und Antworten austauschten, die nur Unbekannten auf der Zunge liegen, die so viel gemeinsam haben wie wir, beobachtete ich sie aufmerksam. Wie in der Rätselecke, wo es darum geht, zehn Unterschiede bei ansonsten identischen Bildern zu finden, sprang mein Blick jene zwanzig Jahre hin und her, die zwischen Altomontes Küche in Heidelberg und dieser Hotelhalle lagen. Chloé war in allem vollkommener als das Original. Es war, als sei dem Schöpfer beim zweiten Versuch alles geglückt, und für einen Moment haderte ich mit meinem Schicksal. Warum hatte ausgerechnet ich der Leidtragende seiner Schludrigkeit, seiner mangelnden Liebe zum Detail sein müssen? Dann stellte ich mir vor, nicht Alessandra, sondern Chloé wäre mir in jenem Frühling begegnet. Keine der Eigenschaften, die sie heute über die Mutter erhoben, hätte mich damals angezogen. Wenn jemand Fehler gemacht hatte, dann hatte er sie zweifellos an uns allen verbrochen.
Schnell stellte sich heraus, dass sie jene Studentin war, die Altomonte beim fraglichen Experiment assistiert hatte. Noch keine achtzehn Jahre alt hatte sie ein Physik- und Mathematikstudium in Lugano begonnen. Nach dem Vordiplom war sie ihrem Vater nach Genf gefolgt. Unnötig zu erwähnen, dass sie ein halbes Dutzend Sprachen fließend sprach, wie sie überhaupt mit der Bürde des hochbegabten Kindes spielend fertiggeworden zu sein schien. Einen Großteil ihres Lebens hatte sie in Schweizer Internaten verbracht, und nicht einmal das, nahm sie ihrem Vater, ihrer Mutter oder sonst jemandem übel. Vielleicht war das das einzige, was mich ein wenig störte. Sie hatte ein hochentwickeltes Verantwortungsbewusstsein, hatte die Fähigkeit, die verschiedenen Seiten zu berücksichtigen, um dann Entscheidungen zu treffen, die klar durchdacht und nach höchsten Maßstäben richtig schienen. Bildete ich mir selbst ein, nicht gerade in den Tag hineinzuleben, kam ich mir an ihrer Seite ein bisschen wie ein sattes, selbstzufriedenes Tier vor. In dieser Hinsicht war sie das krasse Gegenteil ihres Vaters. Vielleicht hatten die strengen Schweizer Schulen einen gelungenen Kompromiss zwischen der grenzenlosen Egozentrik Altomontes und dem schließlich pervertierten sozialen Engagement Alessandras zuwege gebracht. Natürlich bewunderte ich Chloé auch dafür. Doch so wie kleine Schwächen Menschen sympathischer erscheinen lassen, machte eine solche Vollkommenheit auch misstrauisch, schüchterte ein. Sie war ein Missklang, der nicht in das gewohnte Bild passte.
Als habe sie sich von der B ürde der Berühmtheit ihrer Eltern losmachen wollen, hatte sie ihren Namen geändert. Es hatte eine Zeit gegeben, da der Name Miraio, so hatte Alessandra geheißen, eine traurige Bekanntheit erlangt hatte, die Altomonte, wenn auch aus anderen Gründen, selbst in der Stunde seines größten Triumphes nicht hatte erreichen können. Noch heute, fünfzehn Jahre danach, ist die Miraio ein Synonym für das weibliche Pendant zum Schwarzen Mann. War es ihrer Tochter zu verdenken, dass sie die Spuren ihres Ursprungs so weit wie möglich verwischen wollte?
"U nd wie bist du auf Jamorí gekommen?" fragte ich sie, als säßen wir gemeinsam an einem Kreuzworträtsel, an dem die letzten zwei oder drei Buchstaben fehlten.
Sie l ächelte. "Kommst du nicht selbst drauf?"
Wenn ich die beiden Namen
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