Die Himmelsleiter (German Edition)
Altomonte gerade fünf Minuten zuvor hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen.
Im ger äumigen Wohnzimmer, in dem wir so oft zusammengesessen hatten, ließ ich meinen Blick unschlüssig herum schweifen. Noch tat ich so, als wüsste ich nicht, wo ich mit meiner Suche beginnen sollte.
Der Fl ügel stand in der Ecke nahe der Terrassentür. Auf dem Notenständer lag eine zusammengeklappte dunkelbraune Ledermappe. Darauf war in goldener Prägung die Inschrift zu lesen: Johann Sebastian Bach: Das Musikalische Opfer . Ein kurzer Blick hinein genügte, um mich zu vergewissern, dass ihr Inhalt tatsächlich nicht aus Notenblättern bestand. Ich lächelte der misstrauisch dreinblickenden Madame Combray zu und nahm die Mappe an mich.
Auf dem Klavier lag noch etwas anderes: ein d ünnes Taschenbuch. Der billige grünlichblaue Einband erschien auf dem blank polierten Holz seltsam fehl am Platz.
Madame Combray, die das Objekt noch vor mir entdeckt hatte, murmelte, sie habe erst vor ein paar Tagen alles aufger äumt, nachdem die Polizei dagewesen sei, schüttelte missbilligend den Kopf, als sei die neuerliche Unordnung ganz allein mein Verschulden, und machte Anstalten, das abgegriffene Exemplar nach einem unergründlichen System in einem der untersten Regale des großen Bücherschranks zu verbannen.
M öglich, dass allein schon die Farben auf dem Umschlag die Erinnerung in mir wachgerufen hatten, die Menschen darauf, die als düstere Schatten wie Marionetten oder zum Tode Verurteilte an einem Faden, einem Seil hingen. Jedenfalls erkannte ich das vergilbte Exemplar sofort wieder. Es war ein Science Fiction-Roman und hieß: Welt am Draht . Ich selbst hatte es gelesen, sogar zweimal, und es hatte eine Zeit gegeben, in der Altomonte und ich darüber genauso eifrig diskutiert hatten wie über das Kapital oder Reichs Charakterkunde .
Ohne ein Wort nahm ich es der resoluten Madame Combray aus der Hand. Verbl üfft richtete sie sich wieder auf.
Es war Altomontes Exemplar. Innen auf der Umschlagseite stand in kleinen unauff älligen Buchstaben: altomonte . Irgendwer hatte ihm einmal gesagt, dass Einstein und Freud eine bescheidene und gut lesbare Unterschrift gehabt hatten. Selbst auf einen großen Anfangsbuchstaben hätten sie verzichtet. Zwei Tage hatte er geübt, um seine eigene schnörkelreiche Signatur auf das normale Geniemaß zurechtzustutzen.
Einige Stellen waren mit Bleistift angestrichen. Ich f ächerte die Seiten auf. Staub stieg mir in die Nase.
Auf der hinteren Umschlagseite stand eine kurze Zusammenfassung:
Daniel F. Galouye schildert in diesem utopisch-technischen Roman zwei Welten. Die eine ist wirklich, die andere unwirklich. In ihr sind Materie und Bewegung nichts anderes als das Spiel elektronischer Kräfte: grenzenlose Illusion, Fälschung. Wer aber betreibt sie? Jene unbegreifliche Macht, die vernunftbegabte Wesen wie Marionetten dirigiert …? Trotzdem gelingt einem Mann namens Douglas Hall der Durchbruch aus der Welt der Illusion in die Wirklichkeit.
"Meinen Sie, ich kann das auch noch mitnehmen?"
Als hätte ich um die Hand ihrer minderjährigen Tochter angehalten, wog Madame Combray sorgenvoll ihren Kopf. Schließlich sagte sie: "Nur weil Sie es sind, Monsieur Heilant, nur weil Sie es sind."
RÄTSEL UND JEDE MENGE AUFLÖSUNGEN
In natürlicher Umgebung kann man niemals eine Null-Fehler-Rate erreichen. Die Natur, brillant wie sie ist, findet also Mittel und Wege, Fehler in ihrem Sinne wirken zu lassen. Es ist irgendwie so: Grobe Fehler sind tödlich, kleine flüchtige Fehler geben den Dingen genügend Lockerheit, damit sich Neues auftun kann. Wenn die Schrittweite der Fehler klein genug gehalten werden kann, lässt sich schrittweise eine Annäherung zum fast Perfekten erreichen.
Es fällt mir schwer, es in Worte zu kleiden, aber wenn ich an Kreativität denke, fallen mir Eigenschaften wie 'nervöses Zittern' und 'Verletzlichkeit' ein. Die Struktur eines großangelegten Anordnungsschemas kann durch das Einlassen kleiner Teilchen von etwas, was nicht dazugehört, dramatisch verändert werden. Nicht der Zufallscharakter ist in Wirklichkeit die lebenswichtige Ingredienz in der Kreativität, sondern eher die fast unmerkliche Färbung der subtilen Wahrheiten, die die Kreativität findet.
Kleine kräuselnde Wellen sind die niedrigsten Formen, die das besitzen, was man eine Persönlichkeit nennt. Felsen und Schnee haben tendenziell sehr wenig Persönlichkeit, weil deren Kräusel sehr klein
Weitere Kostenlose Bücher