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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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sind. Da hat Qualm schon mehr Persönlichkeit. Ich glaube tatsächlich, dass Bach und Magritte aus diesem Grunde Pfeifenrauch liebten.
    Eine Qualmwolke ist irgendwie wie ein Neffe von uns. Kleine Luftströmungen, die locker verbundenen Systeme wirbeln Schäfchenwolken auf, und wir können beobachten, wie das Ganze sanft und gemächlich durch die Luft gleitet. Wogende Flüsse und Ströme besitzen diese Eigenschaft, wie auch brechende Ozeanwellen. Das Kochen am Herd und das eigene innere Kochen, die kleinen Stücke, jedes mit seinem eigenem Leben, jeder kleinen Welle verbunden, interagierend und trotzdem am Ganzen partizipierend.
    R . R.
    Tod durch Selbstmord im April 1984
     
    Am nächsten Tag löste sich ein Rätsel. Es war nicht das wichtigste Rätsel, aber es war jenes, das mich in Gedanken am meisten beschäftigt hatte. Im Gegenzug tauchte eine Reihe neuer Fragezeichen auf, so dass die ganze verworrene Geschichte unterm Strich nicht viel klarer wurde.
    Noch im Auto hatte ich den Inhalt der Mappe überflogen, mit vor Aufregung klopfendem Herzen, so als enthielte sie das dreimal beglaubigte Geständnis des mysteriösen Täters. Tatsächlich schien mich das Musikalische Opfer , meine Bach-Spur , wie ich sie insgeheim nannte, keinen Zentimeter weiterzubringen, und ich zweifelte im ersten Augenblick sogar, ob der große Komponist in irgendeinem Zusammenhang mit dem Unfall und Altomontes Tod stand. Statt einer wie immer gearteten Lösung, enthielt die Mappe einen Stapel Fotokopien. Darunter Notizen, Zeichnungen, aus dem Zusammenhang gerissene Textauszüge, unverbunden nebeneinander stehende Zitate und andere Papiere, deren Herkunft und Bedeutung mir völlig unklar lag. Vielleicht handelte es sich um eine Stoffsammlung, war mir durch den Kopf gegangen, und die Umrisse eines gewaltigen Projekts bildeten sich heraus, beschäftigte ich mich nur intensiv genug damit.
    Zuoberst lag ein englischer Text. Darin berichtete ein Ingenieur Namens Russell von einer Beobachtung, die er im Jahre 1834 in einem Kanal gemacht hatte. Dann kam ein Auszug aus einem naturkundlichen Werk. Es ging um Seebeben, um die gro ßen Flutwellen, die Tsunamis genannt werden. Auf der Rückseite war ein Bild, die Reproduktion eines Holzschnitts eines japanischen Meisters. "Dreiunddreißig Ansichten des Berges Fuji" stand darunter. Zwei engbeschriebene Seiten folgten, Originale, wie es schien, die eine kurze Szene enthielten, einen Dialog zwischen Achilles und der Schildkröte. Auch hierzu fand ich eine Illustration, die ungelenke Bleistiftzeichnung eines Kriegers, der ein topfförmiges Gebilde verfolgt. In diesem Stil ging es weiter, und ich beschloss, die sorgfältige Untersuchung des Materials auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Selbst einige Notenblätter waren dabei.
    Wie am Vortag als der Kommissar, einem durchsichtigen Ungl ücksboten gleich, plötzlich an meinem Frühstückstisch gesessen hatte, glaubte ich in der ersten Verwirrung auch an diesem Tag, eine unmögliche Erscheinung zu erblicken.
    Ein Besucher war mir gemeldet worden, eine junge Dame, um genauer zu sein. Kaum hatte ich das vernommen, sp ürte ich eine seltsame Veränderung in mir vorgehen. Mir war, als sei ich eben erst in Genf angekommen und nicht fast eine Woche zuvor. Was ich bisher getan hatte, waren Verlegenheitsgesten gewesen, Übersprunghandlungen, wohlgemeinte Versuche, mein Warten mit etwas Nützlichem zu füllen. Jetzt aber ginge es los. Keinen Augenblick zweifelte ich daran, dass es meine geheimnisvolle Fremde war, die unten auf mich wartete.
    Als ich sie dann sah, war alles schlagartig ganz anders, und trotzdem schien es sich auf wundersame Weise zu erf üllen. Sie war's und war's doch nicht. In jedem Film hätte ich erstaunt den falschen Namen ausgerufen, verwirrt über das Unmögliche, das sich mir darbot. In der wirklicheren Wirklichkeit aber brauchte ich nur die Bruchteile einer Sekunde, um das Gefühl, das mir den Mund schon geöffnet hatte, wie einen ungezogenen Hund zurückzuscheuchen.
    So nahm ich ihre Rechte in beide H ände, lächelte mein schönstes Lächeln und sagte: "Chloé!"
    In diesem einen Wort lag alles, was ich gerade f ühlte: maßloses Erstaunen, Trauer, über das, was ich verloren hatte, kindliche Vorfreude angesichts dessen, was kommen mochte. Als wollte ich sie von einem überreichen Buffet wenigstens kosten lassen, legte ich von allem ein wenig hinein.
    Auch sie strahlte, sagte, wie sehr sie sich freue, mich nach so langer Zeit

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