Die Himmelsleiter (German Edition)
ich ungeschickt zu einem Objekt zusammensetzte, von dem ich noch keine Vorstellung hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte ich wieder an jene fernen Ereignisse zurück. Mit dem ersten Tag auf den Spuren des ehemaligen Freundes war ich selbst mehr und mehr ins Zentrum des Falles gerückt. Altomontes Geschichte war Stück für Stück zu meiner eigenen Geschichte geworden. Spätestens mit Chloés unverhofftem Erscheinen war etwas in mir aufgebrochen. Wie in einer Therapie, in der Verschüttetes und Verdrängtes, Schmerzhaftes und Verleugnetes nach und nach hervorgeholt und zugelassen werden muss, kämpfte ich mit jeder Erinnerung wie mit einem Gespenst. Ich spürte, dass die Lösung des Rätsels, das mich in Genf festhielt, in meiner eigenen Vergangenheit gesucht werden musste. Hatte Altomontes Tod die Anfänge unserer Freundschaft wachgerufen, brachte das, was ich Chloé gegenüber fühlte, die tragischen Ereignisse um Alessandra in alter, quälender Schärfe zurück.
Vielleicht war das der Grund, warum ich so unt ätig geblieben war. Meine Ermittlungen hatte ich wie ein lästiges Pflichtprogramm absolviert. Mit jedem Schritt konnte ich mich tiefer hineinreiten, und ich war mir nicht sicher, ob es mir gelänge, dort wieder heil herauszukommen.
Das Wetter war noch schlechter geworden. Nun regnete und schneite es abwechselnd, und ein eisiger Wind wehte vom Berg her oder aus dem Rh ônetal herauf. Ich sah viel fern. Ein würfelförmiger Farbfernseher hing festgeschraubt in einer Metallhalterung von der Decke gleich über meiner bescheidenen Sitzecke. Es gab nur wenige Programme, und ich hielt mich an die Nachrichtensendungen, die fast pausenlos über die Mattscheibe flimmerten.
Was im Sp ätsommer mit einer Handvoll Botschaftsflüchtlingen begonnen und sich Woche um Woche wie eine Kettenreaktion aufgeschaukelt hatte, schien endgültig außer Kontrolle geraten zu sein. Einem riesigen Kartenhaus gleich und fast ebenso leise fiel der Ostblock in sich zusammen. Ein verrückter Politiker hatte sich irgendwo am Fundament zu schaffen gemacht, hatte etwas von Umbau gebrabbelt und hockte jetzt maßlos erstaunt vor seinem Zerstörungswerk, die Karte noch in der Hand, die er vielleicht um nur wenige Zentimeter hatte verrücken wollen.
Am f ünften Dezember wird Honecker unter Hausarrest gestellt. Am sechsten legt Krenz sein Amt als Staatspräsident der DDR nieder. Am siebten tritt der tschechoslowakische Ministerpräsident zurück. In Prag bildet am achten der Reformkommunist Calfa eine Regierung, in der die Kommunisten erstmals in der Minderheit sind. Am elften gibt Bulgariens Führung freie Wahlen für das darauffolgende Jahr bekannt. Rumänien ist das letzte große Bollwerk. Wie eine Insel trotzt es der Auflösung ringsum. Wäre Politik mein Ressort gewesen, hätte ich sicher nicht die Zeit gehabt, wochenlang in Genf herumzusitzen und in meiner Vergangenheit wie in einer mit Souvenirs gefüllten Schublade herumzukramen. In Stockholm wird dem Dalai Lama der Friedensnobelpreis verliehen.
Am Vorabend hatte mich der Kommiss är besucht, und wir hatten in der Lobby des Hotels eine Partie gespielt. Er war besser als ich. Ruhig und konzentriert dachte er lange nach und führte durchsichtige, aber kraftvolle Angriffe gegen meine Stellung. Ihm lag wenig an spektakulären Opfern oder glänzenden Kombinationen. Zug um Zug sammelte er winzige Vorteile wie Pfennigstücke. Es bereitete ihm eine dunkle Freude, mich bedächtig an die Wand zu drücken und langsam zu zermalmen. Obwohl ich all das aufbot, was ich irgendwann an Theorie gelernt hatte, gelang es mir nur, dieses Ende hinauszuzögern. Wie es schien, war ihm gerade dieser anhaltende Widerstand von besonderem Vergnügen. Vielleicht war es sein Alter, seine vorgebliche Krankheit. Ich ließ ihn nicht absichtlich gewinnen, aber ich gönnte ihm den Sieg.
Danach sa ßen wir noch ein Stündchen zusammen und sortierten das Wenige, das wir in den vorausgegangenen zwei Wochen hatten herausfinden können.
Seit ihm der Fall von h öherer Stelle entzogen worden war und er nur noch in deren Auftrag, aber ohne eigene Verantwortlichkeit ermittelte, war er mir gegenüber aufgeschlossener. Seine Vorgesetzten zu hintergehen entschädigte ihn vielleicht für die erlittene Herabsetzung. Möglich, dass er in mir einen Verbündeten suchte. Jedenfalls betrachtete er mich nicht mehr als einen unwillkommenen Schnüffler, dem ab und zu ein Brocken hingeworfen werden musste, um ihn bei Laune zu halten
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