Die Himmelsleiter (German Edition)
war sie ungleich schöner, ein Eindruck, der sich von Mal zu Mal verfestigte.
Wir sa ßen im kleinen Restaurant des Les Armures , dessen standesgemäßes Interieur ein wenig überladen, aber dennoch gemütlich war. Ob wir nicht richtig schön Essen gehen wollten, hatte sie am Nachmittag am Telefon gefragt, und mir war die Wahl nicht schwergefallen. Chloé kam und ging, ohne dass man sie hätte festhalten können, und ihr Anruf platzte in mein Warten wie der langersehnte Regen in eine anhaltende Dürre. Ihre Stimme klang vielversprechend, so als gäbe es etwas zu feiern oder einen anderen wichtigen Anlass.
Es war unser erstes richtiges Rendezvous, und ich war genauso aufgeregt, wie es sich f ür das erste Mal gehörte. Was mich fast genauso erregte wie dieses vage Versprechen, das sich vielleicht irgendwann würde einlösen lassen, entsprang einer schwer fassbaren Vertrautheit zwischen uns. Das Neue, das sie zweifellos verkörperte, wurde von Altbekanntem überlagert. Verblüffende Einsichten stellten sich ein und narrten das Bestreben, beim einen oder anderen zu bleiben.
Ich war verliebt und gleichzeitig mehr als das. In meiner Verliebtheit erkannte ich Alessandra wieder, die Anf änge unserer Beziehung, aber auch das Gereifte, was uns später verband. So wie eine lange Trennung einer abgeklärten, ruhig dahinfließenden Liebe, etwas von der Spannung der ersten Tage zurückbringen kann, überstieg das, was ich für Chloé fühlte, die von Ängstlichkeit durchsetzte Freude auf das Neue. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, etwas, das ich in dieser Form noch nicht erfahren hatte: Ich liebte sie wie ein eigenes Kind. Damit einher ging auch ein inzestuöser Reiz von ihr aus, eine Lockung, der ich abseits tatsächlicher Elternschaft nachspüren konnte, so als habe mir eine höhere Macht das erlaubt, was gewöhnlich streng verboten war.
Was an diesem Abend in Chloé vorging, weiß ich nicht. Ihr Blick war warm, sie strahlte, sah mir lange in die Augen, manchmal berührte sie meinen Arm, meine Hand. Und doch klaffte ein Abstand zwischen uns, den ich nicht zu überbrücken vermochte, ein kleiner Spalt, der mir nur von Zeit zu Zeit bewusst wurde, eine vollkommene Harmonie aber verhinderte. Wenn sie mich spöttisch betrachtete, die Brauen hochgestellt wie ihr Vater, wenn sie ihr abgeklärtes Lächeln ausschickte, die Gewandtheit ausspielte, mit der sie jede Situation zu meistern schien, dann war sie mir weit überlegen, unerreichbar. Vielleicht war es der Altersunterschied, vielleicht war sie zu vollkommen.
Chloé schien begierig, mehr über ihre Mutter zu erfahren. Altomonte und auch ich hatte ihr einiges erzählt. Für die Großeltern in Mailand dagegen war schon die Erwähnung ihres Namens ein unverzeihlicher Affront gewesen. Bereits zu Lebzeiten war sie totgeschwiegen worden, wie eine tiefe Schmach, die nur durch Verdrängung zu ertragen ist.
Mir fiel eine unserer letzten Begegnungen ein, eigentlich die letzte. Auch ich tat mich mit der Vergangenheit schwer.
Um die Jahreswende 1974/75 hatte ich Alessandra noch einmal gesehen. Zwischen Neujahr und den Drei Königen , um genau zu sein, an einem jener Tage, an denen das Jahr sich noch kurz verschnauft und zu überlegen scheint, ob es sich lohne, den weiten Weg überhaupt anzutreten.
Es war ein vor K älte knisternder Tag, und unsere Ölöfen bollerten dumpf. In jedem Zimmer herrschte eine andere, genauso unangenehme Temperatur. So wie es mancherorts zu kalt war, war es woanders zu warm. Das Haus war leer, und die Stadt verlassen. Nur wenige verfrorene Touristen trippelten auf dem verkürzten Parcours zwischen Hotel Ritter und Schlossberg rauf und runter. Weiße Wölkchen entströmten ihren Mündern wie Sprechblasen. Meine Mitbewohner waren ausgeflogen. Norma hatte uns schon vor Weihnachten endgültig verlassen. Meike war zu ihren Eltern nach Hamburg gefahren, und Robert turtelte mit seiner neuen Flamme auf einer Skihütte im Berner Oberland herum.
Ich hatte gerade meine alte IBM auf den Schreibtisch gewuchtet, ein zwanzig Kilo schweres Unget üm, und ein neues Karbonband eingelegt, als es klingelte. Von meinem Platz aus konnte ich unter mir die halbe Hauptstraße bis zur Heilig-Geist-Kirche einsehen. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich öffnen sollte. Der Aufsatz, den ich ins reine schreiben wollte, lag schon seit Mitte Dezember auf dem Tisch. Andererseits war mir an diesen Tagen völliger Ereignislosigkeit jede Ablenkung willkommen. Seufzend stand ich
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