Die Himmelsleiter (German Edition)
Weststadt oder nach Neuenheim wagte, dann nur aus wichtigem Grund: auf dem Weg zum Bahnhof, zu den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten im Neuenheimer Feld oder anlässlich des Besuchs bei einem anerkannten Facharzt. Die anderen Stadtteile kannte man nur vom Hörensagen.
Als wir in die S üdstadt zogen, trösteten wir uns damit, mit dem Fahrrad seien es nur fünf Minuten in die Altstadt, selbst laufen könne man bequem. Dennoch fühlten wir uns bald ausgeschlossen. Hierher nach draußen drang kaum etwas von den vielfältigen politischen Aktivitäten, in die man in der Altstadt fast zwangsläufig hineingezogen wurde. Wie in einer selbstgewählten Verbannung blieben nun auch die Besucher aus. Hinzu kam, dass wir seit längerem nicht mehr studierten und nach und nach den Kontakt zur studentischen Szene verloren. Dennoch waren wir froh, dem nächtlichen Lärm der Hauptstraße, den randalierenden Jugendlichen aus den Umlandgemeinden und den Schnapsleichen in unserem Hauseingang entronnen zu sein.
Unser neues Domizil war ein unauff älliger Bau jüngeren Datums, ein dreistöckiges, freistehendes Haus mit einem schmalen Grundstück drum rum. Es beherbergte das Heidelberger Öko-Institut , eine selbstverwaltete Forschungseinrichtung, in der ich seit einigen Jahren arbeitete. Im Erdgeschoß und im flachen Anbau auf der rückwärtigen Seite waren die Büroräume, unterm Dach die hauseigene Bibliothek und das Archiv untergebracht. In den restlichen Zimmern wohnten einige der Mitarbeiter, ohne allzu großen privaten Kontakt miteinander zu pflegen. Nur morgens vor Arbeitsbeginn wurde in der großen Küche, bei schönem Wetter auch im Garten, gemeinsam gefrühstückt. Als zwei Zimmer freiwurden, ergriffen wir die Gelegenheit beim Schopfe und zogen ein. Meike übernahm ein kleines fremdfinanziertes Projekt.
Altomonte stand mit dem R ücken zum Fenster und sah sich um. Die Maisonne fiel honiggelb ins Zimmer, und der Raum, die hellen Holzregale, die große Kieferplatte, die mir als Schreibtisch diente, waren lichtüberflutet. Die Strahlen schimmerten hell durch die Blätter meiner Zimmerpflanzen, und ich war stolz, ihn hier in dieser freundlichen Umgebung empfangen zu können. Auch ihm schien es zu gefallen.
Er schlenderte umher, nahm hier und dort ein Buch, eine Brosch üre in die Hand oder warf einen neugierigen Blick auf einen Stapel enggetippter Blätter. Ich hatte ihm geschrieben, ich hätte die Uni endgültig verlassen, um mich der Anti-Atomkraft-Bewegung anzuschließen. Er war nicht weiter darauf eingegangen, und jetzt beobachtete ich ihn, wie er ungezwungen in meinen Unterlagen wühlte, um an seinem Gesicht seine Reaktion abzulesen.
Auf meinem Schreibtisch lagen Berge an Material. Er nahm wahllos so viel, wie er mit einer Hand greifen konnte. Ohne sich lange mit einem einzelnen Schriftstück aufzuhalten, sichtete er seine Beute: ein buntes Informationsblatt der Betreiber des Kernkraftwerks Philippsburg, ein Heft aus der Reihe Bürgerdialog des Bundesministers für Forschung und Technologie, mehrere Flugblätter gegen das geplante Atomkraftwerk der BASF in Ludwigshafen, eine Chronik der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen zu den Ereignissen in Whyl, auch ein Extrablatt der Kommunistischen Volkszeitung war dabei. Anderes konnte ich aus der Entfernung nicht erkennen.
Ein Manuskript aus grauem Umweltschutzpapier hatte es ihm besonders angetan. Es war die Erstfassung einiger Kapitel des Alternativen Energiehandbuchs , eines größeren Projekts, an dem ich gerade arbeitete. Altomonte kam von seinem Rundgang zurück, setzte sich mir gegenüber in den zerschlissenen Sessel und begann, laut vorzulesen:
"Die W ärmepumpe." Er legte eine Kunstpause ein. "Der Traum vieler Energietüftler war früher ein Perpetuum mobile , eine Maschine, die aus Nichts Energie erzeugen kann. Die Wärmepumpe scheint auf den ersten Blick ein Perpetuum mobile zu sein und dennoch folgt sie streng den Gesetzen der Physik." Er lachte. "Wie wahr, lieber Thomas, wie wahr!"
Im hellen Tageslicht sah er älter aus als kürzlich in der Kneipe. Unter seiner Bräune kamen Furchen und Falten zum Vorschein. In seinen Augenwinkeln hatte sich ein Geflecht feiner Runzeln eingenistet. Die Stirn durchzogen drei tiefe Spalten, jene, die schon immer zu sehen gewesen waren, grübelte er über etwas nach, sich aber nach und nach wie müde Infanteristen eingegraben hatten und ihm jetzt auch entspannten Gesichtes etwas Forschendes verliehen. Er hatte
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