Die Himmelsleiter (German Edition)
im Schwarz ihrer Pupillen sehen. "Menschen sind merkwürdige Wesen. Anstatt zu begreifen, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand haben, suchen sie nach äußeren Ursachen, nach Schuldigen oder Heiligen. Sie glauben, Glück zu haben oder Pech, und fühlen sich im Guten wie im Bösen dem Schicksal ausgeliefert!" Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: "Wir sind wirklich sehr abergläubig." Es war das einzige Mal, dass sie sich zu solchen philosophischen Betrachtungen hinreißen ließ. Ich kam mir wir ein armseliger, abergläubiger Steinzeitmensch vor und muss auch so ausgesehen haben, denn sie lachte und sagte: "Ich wollte damit nur sagen, dass deine Reaktion ganz normal ist."
"U nd wenn er doch lebt?" Ein letzter Zweifel nagte an mir.
Lange sah sie mich an . "Nein", sagte sie dann mit Bestimmtheit, "er ist mausetot. Glaub mir, ich hab's mit eigenen Augen gesehen."
Es wollte mir nicht in den Sinn, dass ich tatsächlich mit einer Maschine gesprochen haben sollte. Wenn es Altomonte nicht gewesen sein konnte, was war mit ihr, mit Chloé selbst? Sie wusste, wo ich war, und hatte Zeit genug ins Institut zu fahren oder sich von irgendwoher telefonisch einzuloggen. Aber warum hätte sie das tun sollen? Aus Spaß? Um mich auf die richtige Fährte zu führen oder auf die falsche? Welche Fährte? Fast hätte ich sie gefragt, wo sie den Nachmittag verbracht habe. Dann verscheuchte ich diese Gedanken. Ich begann Gespenster zu sehen, oder, schlimmer noch, ich litt unter Verfolgungswahn.
Wir waren schon eine Weile mit dem Essen fertig, als Chloé vorschlug, es uns woanders bequem zu machen. Da es nirgendwo eine Couch oder eine gemütliche Sitzecke gab, gingen wir zu ihrer kombinierten Schlaf- und Wohnlandschaft hinüber und versanken fast in den Kissen. Irgendwo lief eine Gasheizung. Mehrere versteckte Lampen verbreiteten ein angenehmes indirektes Licht, das dennoch hell genug war, um die Welt um uns herum nicht allzu unwirklich erscheinen zu lassen.
Sie kuschelte sich an mich, war so nah wie nie zuvor, und doch hinderte mich etwas, diese N ähe zu erwidern. Es war jener strahlende Oktobertag von vor zwölf Jahren, der wie eine Erbsünde auf mir lastete. Ich spürte den dumpfen Druck in meinem Kopf jetzt fast stärker als damals. Mehr als allen anderen gegenüber fühlte ich mich Chloé, der Tochter, gegenüber schuldig. Ich ergriff ihre Hand. Wie unter Zwang erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Ich erzählte ihr, wie es gewesen war, wie es wirklich gewesen war.
Chloé saß aufrecht. Sie hatte sich mir zugewandt und aufmerksam, aber unbewegt zugehört. Sie glich einem Therapeuten oder Beichtvater, der die verworrenen Alpträume, die Geständnisse seines Schützlings mit Wohlwollen, aber mit professionellem Gleichmut zur Kenntnis nimmt, sie glich einem Menschen, der mehr Abgründe gesehen hat, als dass ihn die kleinen Sünden des gewöhnlichen Sterblichen hätten beeindrucken können. Montaigne hätte sich vermutlich genauso verhalten.
Als ich geendet hatte, sagte sie l ächelnd: "Ich erteile dir die Absolution." Mehr sagte sie nicht. Dann beugte sie sich zu mir herunter.
Ihre Lippen ber ührten meinen Mund, massierten die meinen, kosteten und zwickten sie, als spielten sie mit ihnen. Jetzt hörte ich ihren Atem, der schneller ging und mir mal durch die Nase, mal durch den halbgeöffneten Mund über das Gesicht strich. Als hätte sie tatsächlich meine Schuld auf sich genommen, wurde ich ruhig. Ein tiefer Friede erfüllte mich.
Dann schob sie sich auf mich. Wellenf örmig glitt sie über mich hinweg wie eine Balletttänzerin. Ich gab mich dieser Dünung hin, die mich sanft hochhob und wieder hinunter drückte, die mich wie lauwarmes Wasser von allen Seiten zu umspülen schien. Dann setzte sie sich halb auf. Und während ich ganz still hielt, spürte ich das zarte Gewicht ihres Unterleibs zwischen meinen Lenden tasten, als erforsche sie etwas. Ihr Mund suchte wieder den meinen, fordernder jetzt, und auch ihr Becken gehorchte einem neuen Rhythmus. Kurz und hart rieb sie sich an mich, legte dazwischen immer wieder kleine Pausen ein, als folge sie einem unberechenbaren Plan. Mit einer Hand umfasste sie meinen Nacken, während ihr offenes Haar wie ein Zelt über uns fiel.
Pl ötzlich machte sie sich los, rollte zurück und schaute mich an. Bedächtig begann sie, mich auszuziehen. Sie ließ sich viel Zeit, tastete nach meiner Haut, wann immer sie ein Stück davon freigelegt hatte, und beobachtete dabei aufmerksam ihr Tun. Als ich
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