Die Himmelsleiter (German Edition)
ein, das ich im Vorjahr in seinem Genfer Haus gef ührt hatte. Am Schluss hatte ich ihn nach seinen weiteren Plänen gefragt, und seine Antwort hatte ähnlich geklungen.
"Kannst du dir etwas unter einem Fitnessraum vorstellen?" fragte er mich. Die Antwort, die mir schon auf den Lippen lag, erstickte er mit einer Handbewegung. "Spar dir deine Witze. Ich meine einen mathematischen Fitnessraum." Er grinste und überlegte kurz. "Stell die eine Kugel in einer Landschaft aus Bergen und Tälern vor. Du lässt sie irgendwo fallen und beobachtest, was passiert. Sie kullert ein bisschen herum und bleibt schließlich in einem Tal liegen, oder?! Wenn von außen kein Anstoß kommt, wird sie dort für alle Zeiten verharren. Man könnte sagen, sie hat ein Optimum erreicht, einen Zustand geringster Energie, der stabil ist." Er hielt sein Sherryglas gegen das Kaminfeuer und starrte in die glitzernde braune Flüssigkeit. "So weit, so gut. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, wie optimal dieses Optimum ist. Gibt es möglicherweise an anderer Stelle einen Zustand noch geringerer Energie, der genauso stabil ist? Hat unsere Kugel ein absolutes oder nur ein relatives Minimum erreicht? Oder anders ausgedrückt, liegt sie im tiefsten Tal, einem Tälchen, in einer Hochebene gar? Gäbe es irgendwo ein tieferes Tal, könnte die Kugel aus eigener Kraft niemals dorthin gelangen, denn sie besitzt ja keine Energie mehr, um über die Berge um sie herum zu klettern. Sie wäre in einem suboptimalen Zustand gefangen."
Ich stellte mir vor, wie er das seinen Studenten mit den gleichen Worten schon viele Mal erkl ärt hatte.
"Nun k önnte es uns gleichgültig sein", fuhr er fort, "wie weit diese kleine armselige Kugel von ihrem optimalen Zustand entfernt ist, oder?! Aber es geht ja gar nicht um eine Kugel, das ist nur ein Bild. Du kannst stattdessen jedes beliebige System nehmen, das eine gewisse Komplexität überschreitet, ein Ökosystem, einen See oder Wald beispielsweise, eine Gesellschaft, das Wetter, die ganze Welt. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt." Er hatte sich zu mir vorgebeugt und die Arme ausgebreitet. "Und da ist es keineswegs egal, ob es nicht einen besseren, vielleicht sogar einen optimalen Systemzustand gibt."
Das war der Altomonte, den ich kannte, der Altomonte, der sich dazu berufen f ühlte, die Unvollkommenheit auszumerzen, der das Optimum um seiner selbst willen anstrebte. Wie eine fixe Idee würde ihn diese Vorstellung immer beseelen. "Und wie kommt man in dieses tiefste aller Täler?" fragte ich artig und konnte ein Gähnen nur mühsam unterdrücken. Für mich wurde es Zeit, aufzubrechen.
"Es gibt viele M öglichkeiten. Die gängigste ist, man führt - um im Bild zu bleiben - Energie zu, das heißt man versetzt die Kugel in Schwingungen, die so heftig sind, dass sie irgendwann über die Begrenzungen hinweg in das tiefere Tal hüpft …"
"A ber?"
"Es gibt einen einfacheren Weg." Er legte eine kleine Kunstpause ein. "Du gr äbst einen Tunnel. Warum mühsam die Berge hochklettern, wenn du auf direktem Wege dorthin gelangen kannst?"
" Der Solitonentunnel", dachte ich, mich an die Anfänge des Interviews erinnernd. Alle Welt zerbrach sich den Kopf, wie man ein System die Hänge einer Fitnesslandschaft hinaufsteigen lassen konnte, um den optimalen Zustand auf der anderen Seite zu erreichen, und Altomonte kam daher und meinte, er grabe einen Tunnel, ganz so, als sei er ein dreijähriger Junge, der mit seinem neuen Bagger im Sandkasten spielt. Keinen Augenblick zweifelte ich daran, dass es funktionierte.
Chloé war fertig, und ich hatte eine ungefähre Idee von Altomontes Maschine.
Die Kugel, von der er gesprochen hatte, war nichts Geringeres als das Universum. Mit weniger gab er sich nicht zufrieden. Der Grundzustand des Universums, sein Vakuumzustand, ist stabil, stellt also einen Talboden dar. Was aber w äre, wenn hinter den Energiebergen, die das Universum umgeben, ein anderer Vakuumzustand existierte, ein potentielles Universum niedrigerer Energie? Dann wäre unser Universum in gewissem Sinne instabil, denn es bestünde die theoretische Möglichkeit, es könnte in dieses tiefere Tal fallen.
Tom Franp hatte vorgeschlagen, energiereiche Laserpulse zu vereinigen, um eine Solitonenblase zu erzeugen. Die Oberfläche dieser Blase würde zu unserem Universum gehören, ihr Inhalt zu einem Universum niedrigerer Energie. Ein solches Instanton hätte die gleiche Wirkung wie ein Salzkorn in überhitztem Wasser.
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