Die Himmelsleiter (German Edition)
sonst nirgends wohnen, und das Zimmer ist ok, oder?!"
Altomonte sah an diesem Tage besonders m üde aus, die Wangen eingefallen, dunkle Ringe um die Augen. Er trug einen schmuddeligen schwarzen Rollkragenpullover. Zwischen den Lippen hing ihm eine seiner dicken gelben Zigaretten, die so gut zu ihm passten wie eine Havanna zu einem Dreijährigen.
"Geht 's dir nicht gut?" fragte ich ihn.
"Ich hab die ganze Nacht gearbeitet. Komm, ich mu ss dir was zeigen!" Er zog mich hinter den Schrank.
"Wie ist es passiert?" wollte ich irgendwann von Liepman wissen, erstaunt darüber, dass es mich nicht schon früher interessiert hatte. Längst waren die Teller abgeräumt worden, und in der Espressotasse, in die ich nachdenklich starrte, trocknete eine Spur Kaffeesatz. Liepman rauchte keuchend eine Zigarre.
" Genau weiß man's noch nicht." Irgendwas rasselte in seiner Lunge, und für einen Moment fürchtete ich, ein wichtiges Teil habe seinen Geist aufgegeben. "Es sieht aber so aus, als hätte eine Explosion stattgefunden oder so was Ähnliches. Keine große Sache, ein paar Fensterscheiben … Und ihn hat's zerrissen."
"Ihn allein?"
"Es scheint so."
DEM INGENIEUR IST NICHTS ZU SCHWÖR
Ich beobachtete die Bewegung eines Bootes, das von einem Pferdegespann ziemlich rasch einen engen Kanal entlang gezogen wurde, als das Boot plötzlich anhielt - nicht jedoch die Wassermasse im Kanal, die das Boot in Bewegung gesetzt hatte; sie sammelte sich rund um den Schiffsbug in einem Zustand wilder Erregung, ließ das Schiff dann plötzlich hinter sich, rollte mit hoher Geschwindigkeit vorwärts, nahm dabei die Form einer großen einzelnen Erhöhung an, ein abgerundeter, glatter, wohldefinierter Haufen Wasser, der entlang des Kanals anscheinend ohne Formveränderung oder Geschwindigkeitsabnahme seinen Lauf nahm. Ich begleitete diese Welle auf meinem Pferd und überholte sie, während sie sich immer noch mit einer Geschwindigkeit von etwa acht oder neun Meilen pro Stunde bewegte, wobei sie ihre ursprüngliche Gestalt von etwa dreißig Fuß Länge und ein bis eineinhalb Fuß Höhe beibehielt. Die Höhe nahm allmählich ab, und nachdem ich das Ganze für etwa ein oder zwei Meilen beobachtet hatte, verlor ich es in den Windungen des Kanals aus dem Auge.
John S. Russell, im August 1834
Am nächsten Tag wurde Altomonte beerdigt. Noch am gleichen Abend wollte ich wieder in Hamburg sein. Liepman hatte sich entschuldigt, eine familiäre Verpflichtung, und ich hatte - leichtfertigerweise, wie ich jetzt dachte, - auf seine Begleitung verzichtet.
Es nieselte. Dünne Schauer legten sich wie durchsichtige Folien über die zahlreichen Trauergäste, und Graupel oder nassschwerer Schnee prasselte immer wieder auf die Schirme herunter, die von manch einer Böe Auftrieb bekamen und an den Armen ihrer Besitzer zerrten. Wolken jagten über den See, um sich dann in den Bergen zu stauen, zusammenzuklumpen zu schmutzigem Eis.
Im Bestreben, mich im Hintergrund zu halten, stand ich am Rand der im Kreis aufgestellten Menge, dort, wo Betroffenheit nicht einmal der Form halber durchzuhalten ist und manch ein Lache n oder eine zu laut geführte Unterhaltung das andächtige Schweigen der anderen übertönt.
An die hundert Menschen mochten zusammengekommen sein. Hauptsächlich Vertreter von Forschungseinrichtungen und Organisationen oder von staatlichen Stellen, wie mir schien. Den größten Teil der Presse hielten ein paar Uniformierte draußen vor dem Eingang in Schach. Jetzt hätte mir Liepman gute Dienste leisten können. Stattdessen versuchte ich zwischen den professionell Trauernden, ein bekanntes Gesicht auszumachen. Außer Riva, einem Kollegen Altomontes, und Bell, dem wissenschaftlichen Direktor, erkannte ich niemanden. Auf dem Kiesweg zur Rechten des offenen Grabes meinte ich, mehrere verschleierte Frauen auszumachen. Das sah Altomonte ähnlich, wenn jemand um ihn trauerte, dann war diese Person zweifellos weiblich.
Ich fr östelte. Aus dem feuchten Laub zu meinen Füßen kroch die Kälte in mir empor. Bald hatten die ersten genug. Die Ansammlung begann sich aufzulösen. Sie zerfiel von ihrem Rand her, zerfranste zu länglichen Fäden, die sich zu den verschiedenen Ausgängen zogen. Um mich aufzuwärmen, ging ich ein paar Schritte, schlenderte zwischen den monumentalen Grabsteinen umher, beschrieb einen Bogen, wartete bis die Zeremonie auch offiziell ihren Abschluss gefunden hatte, und näherte mich schließlich ohne Hast Altomontes letzter
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