Die Himmelsleiter (German Edition)
Instituts übrigens. Er möchte aber daran erinnern, dass er schon im Sommer die Weihnachtstage favorisiert habe. Die Silvesternacht sei von jeher nicht besonders gut geeignet. Allerdings halte er vom zweiten Weihnachtsfeiertag fast noch mehr als vom ersten. Heiligabend sei letztlich doch mehr los.
Es entwickelte sich eine fruchtlose Diskussion, in deren Verlauf ich ihn davon zu überzeugen versuchte, dass das Experiment erst in der Neujahrsnacht stattfinden werde und er deshalb seine Vorbereitungen abbrechen könne.
Herr Tombay blieb stur. Zum wiederholten Male sagte er: "Es tut mir leid, aber das ist nicht m öglich. Jedwede Änderung ist schriftlich zu beantragen."
"Wer hat das angeordnet?"
"Das sieht die Vereinbarung 4ausdrücklich vor, aus Sicherheitsgründen, wie Sie eigentlich wissen sollten."
"Ich verstehe." Fieberhaft überlegte ich, was ich noch vorbringen konnte. Mein Kopf war vollständig leer. Hilfesuchend blickte ich zu Chloé, die mich aufmerksam beobachtete.
"Im Übrigen glaube ich, dass sie nicht ganz auf dem Laufenden sind. Nach meinen Anzeigen wurde die Zusatzleitung wie vorgesehen um sechzehn Uhr in Betrieb genommen." Tombays Stimme entfernte sich und kehrte zurück. "Der Primärverbrauch liegt jetzt hundert Prozent über Normal - und steigt weiter. Sie sehen also, es ist alles in Ordnung. Herr Heilant, Sie entschuldigen mich, ich habe zu tun. Guten Abend."
Es klickte, und ich stand mit dem H örer in der Hand da.
"U nd?" Chloé sah mich an.
"Wir m üssen nach Genf", antwortete ich tonlos.
Sie schien nichts anderes erwartet zu haben.
DER JÜNGSTE TAG
Der Heiligabend neigte sich seinem Ende entgegen, und Chloé fuhr sehr schnell. Wir hatten den längeren Weg über die Autobahn gewählt: Bellinzona, Luzern, Bern, eine Fahrt durch die halbe Schweiz. Doch in dieser Nacht war der Simplon ein unabschätzbares Risiko. Auch so durfte es keine Verzögerungen geben, wenn wir rechtzeitig in Genf sein wollten.
Die Autobahn lag verlassen vor uns. Niemand schien die Alpen überqueren zu wollen. Entgegen unseren Befürchtungen schneite es nicht. Je höher wir hinauffuhren, desto mehr Schneematsch sammelte sich auf der Überholspur. Doch der Himmel war nur spärlich bewölkt, fast klar. Einzelne Sterne brannten wie die fernen Lichter verstreuter Behausungen, und auch der Mond, eine dünne Sichel scharf wie eine Klinge, huschte hinter den Bergen unseren Weg entlang.
Der kleine Lancia schlingerte, wenn Chloé über einen größeren Matschhaufen fuhr, ein gefrorenes Wegstück oder den zusammengeschmolzenen Rest einer Schneewehe durchquerte. Dann krachte Eis gegen den Unterboden, und ich meinte, in einem kleinen Boot klatschend von Welle zu Welle zu springen.
Wir h örten Radio, um auf etwaige Verkehrsbehinderungen vorbereitet zu sein. Doch es gab nur ein besinnliches Weihnachtsprogramm, das auf seltsame Weise mit den Nachrichten des Tages kontrastierte.
In Rum änien herrschte Bürgerkrieg. Die letzte Bastion wollte sich nicht kampflos ergeben. Die Proteste gegen Ceausescu hatten sich zum Volksaufstand ausgeweitet.
Ich starrte auf die Zeiger der kleinen beleuchteten Uhr im Armaturenbrett. Die Zeit lief davon. Es war wie in dem Buch. Die Welt versank im Chaos, die bekannte Ordnung zerbr öselte wie ein verwitterter Sandstein. Jeden Augenblick konnte alles zu Ende sein. Nur ich, wir konnten sie retten, bevor sie für immer abgeschaltet wurde.
Der Wagen erklomm schnell eine Anh öhe. Das Licht der Scheinwerfer flutete über die Kuppe, floss hinaus in eine fremde Landschaft, durch die die Katzenaugen der Straßenbegrenzung eine lange Schneise geschlagen hatten. Ich war darauf gefasst gewesen, dass die Straße plötzlich aufhörte, dass sie an einer undurchdringlichen Barriere von Dunkelheit endete. Meine Welt erschien mir so wenig real, dass ich für eine kurze Zeit darauf gefasst gewesen war, mich in jener anderen Welt am Draht wiederzufinden, jener fast perfekten Illusion von Wirklichkeit, in der es hieß:
Da draußen gab es keine Sterne, kein Mondlicht - nur das Nichts im Nichts, das man jenseits der dunkelsten Unendlichkeit finden mochte.
Doch die Simulation, falls es eine Simulation war, versagte in meiner Welt nicht, nicht an dieser Stelle. Es gab keinen Aussetzer, kein Black-out. Die Rechner hatten keine Mühe, die lückenlose Illusion aufrechtzuerhalten. Der Berg wuchs vor unseren Augen wie eine schwarze Wand. Die Autobahn verengte sich, als sammele sie Kraft, um in diese
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