Die Himmelsmalerin
Weltenrichter mit den zwei Schwertern der Gerechtigkeit im Mund zeigte. Er thronte auf dem Regenbogen und wies auf seine Wunden, ein Heilsbringer, der alle Schmerzen überwunden hatte und nun über die Welt zu Gericht sitzen würde. Wie würde das Urteil ausfallen, das er über Raban von Roteneck und Lionel Jourdain de Pontserrat zu fällen hatte?
Entschlossen schob Lionel die Gedanken an das Kommende beiseite. Es war richtig gewesen, dass er durchweg kräftige Farben gewählt hatte, bei denen das Gelb mit dem dunklen, tintigen Blau kontrastierte und von einem starken Rotton aufgefangen wurde. Das ganze aus fünfundvierzig Scheiben bestehende Chorfenster leuchtete intensiver als der echte Regenbogen, fast so stark wie die aufgehende Sonne, die ein würdiges Symbol Christi war und sich allein in der Glasmalerei annähernd spiegelte.
Draußen hörte er schon die Fanfaren, die den Besuch des Königs ankündigten. Ludwig würde sich auf seinem edlen, arabischen Rappen zur Kirche begeben und von seinem Rücken aus die Stadtbürger begrüßen, die rechts und links die Straßen säumten. Bürgermeister Kirchhof hatte die Ehre, das Pferd des Herrschers zu führen, was ihn vom Stand her wenigstens für den Moment mit einem seiner adligen Lehnsmänner gleichsetzte. Lionel hörte, wie die Menschen dem König und seinem Gefolge zujubelten. Gleich würden sie über den Holzmarkt kommen, Ludwig würde absteigen, sein Pferd einem seiner Knappen übergeben und die Treppe zur Kirche hinaufsteigen.
»Wir müssen fertig werden.« Das Gewölbe verdoppelte die Stimme von Lenas Vater. Trotz seiner Herzschwäche hatte Heinrich ihnen in den letzten Tagen unter die Arme gegriffen und mit seiner Erfahrung die Abläufe geleitet. Und selbst der Altgeselle Johann und die Lehrbuben waren von morgens bis abends auf den Beinen gewesen. Lionel hatte sich über jede zupackende Hand gefreut, vor allem aber über Konrads, der bei dem ganzen Durcheinander den Überblick behalten hatte.
Der Freiburger packte noch schnell das Gerüst zusammen, das sie erst vor zwei Stunden abgebaut hatten. So knapp war noch keiner von Lionels Aufträgen fertig geworden. Er hatte in der letzten Woche kaum noch Zeit zum Schlafen gefunden. Tagsüber hatten sie die restlichen Fenster bemalt, die Bleiruten eingefügt und den letzten Brand überwacht, bei dem auch das Silbergelb auf Haaren und Heiligenscheinen fixiert wurde. Und nachts hatte er an den sechs obersten Scheiben gearbeitet. Keine fremde Hand hatte er an sie herangelassen, was ihm von Konrad so manchen argwöhnischen Blick eingebracht hatte.
Er fügte das letzte Fenster in seine Umrahmung ein und blickte zurück. In der allgemeinen Aufregung war niemandem aufgefallen, dass die beiden obersten Reihen keine Anker hatten, die sie fest mit dem Mauerwerk und den umgebenden Scheiben verbanden. Weit hinten, im riesigen Langhaus der Kirche, öffnete sich das Hauptportal, und der König und sein Gefolge traten ein. Nach ihnen drängte sich halb Esslingen durch die Tür in die schlichte, aber geräumige Kirche, deren Hauptschiff sich mit dem Raunen unzähliger Menschen füllte. Prior Johannes führte seine Mönche in den Chor und sah mit Entsetzen, dass Lionel noch immer auf der Leiter stand.
»Meister Jourdain«, rief er, Panik in der Stimme. »Es geht los.«
Die Mönche nahmen im Chorgestühl Platz, darunter Bruder Thomas, der ihm ernst zunickte. »Schon gut«, sagte Lionel und tat, was getan werden musste. Vorsichtig drückte er das Wachs, das statt Blei die unteren Ränder begrenzte, in die Halterungen und zündete die Dochte an. Es lag ein leichter Duft nach brennendem Wachs in der Luft, ein klein wenig Rauch stieg auf, der aber von den zahllosen brennenden Kerzen im Chor mühelos überspielt wurde. Dann stieg Lionel die Leiter hinab und schaffte diese in die Sakristei, wobei ihm die Hände so zitterten, dass ihm ihre Halme beinahe entglitten wären. Zum Glück packte Konrad mit an und stellte sie in die Ecke. Gemeinsam gingen sie in den Chor zurück und warteten an der Wand neben dem Chorgestühl auf den König.
Währenddessen durchschritt Ludwig, ein hochgewachsener Mann mit schütterem, rotem Haar, würdevoll das Langhaus und grüßte die vielen festlich gekleideten Gäste, die ehrfurchtsvoll schwiegen. Durch die Arkaden des Lettners sah Lionel, dass eine Frau, die weit vorn am Rand des Mittelgangs stand, ihr kleines Kind auf Schulterhöhe hob und Ludwig ihm für einen Moment die Hand auf den Kopf legte. Das
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