Die Himmelsmalerin
konnte nichts dagegen tun.
Er sagte nichts, sondern nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie zuerst auf beide Augenlider und dann auf den Mund. Lena schloss die Augen und ließ einfach zu, dass sich ihre Lippen öffneten. Danach kreiselte das Chorfenster rund um sie, als hätte man es am Schlussstein aufgehängt und in Bewegung gesetzt. Dass sie nach Roteneck und seinen brutalen Händen noch so empfinden konnte! Sein Kuss gab ihr das Gefühl zu fliegen.
»Du hast wirklich gedacht, ich hätte den Anstetter ermordet«, sagte er nach einer Weile und löste sich von ihr. »Das kann ich dir nicht verdenken, denn ich war kurz davor, mich mit ihm zu schlagen. Aber wie konntest du glauben, dass ich nicht mehr zu dir zurückkehren würde? Ich kann gar nicht anders.« Sehr sanft zog er sie weg vom Geländer des Gerüsts. »Jetzt sollten wir uns zurückhalten, denn die Mönche können jeden Moment zur Non einziehen.«
Lena spürte, wie flammende Röte ihr Gesicht überzog, und atmete gierig die kühle, feuchte Luft ein, die durch die Lücke oben im Chorfenster drang. Die Arbeit wollte fertig werden. Doch als sie entschlossen nach der nächsten Scheibe griff, fiel ihr etwas ins Auge.
Der Prophet im Auferstehungsfenster in der drittobersten Reihe trug ein Spruchband mit lauter deutschen Worten, die sie mühsam aneinanderstückelte. »Stand auf, Jesus«, las sie stockend. »Aber Lionel, das ist ja gar kein Latein!«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er dann. »Und tröste deine Kinder, die durch deinen Tod erlöset sind«, vollendete er. »Das ist Teil eines Kirchenlieds, das dein Vater sich für das Fenster gewünscht hat. Er dankt damit Gott, dass er dich wieder hat, und erinnert daran, wie schnell unser irdisches Leben zerbrechen kann. Bruder Thomas und Prior Johannes waren einverstanden.«
Lena nickte und musste die nächsten Tränen wegblinzeln.
»Er hat so viel Trauriges erlebt«, sagte sie. »Ich wünsche mir, dass er noch ein bisschen im Jetzt und Hier glücklich sein kann. Und wir auch.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür zur Sakristei, und der König trat in Begleitung seiner Ratgeber, des Bürgermeisters und des Priors in den Chor. Hinter ihm drückte sich verlegen Valentin durch den Eingang.
»Oh, du meine Güte«, flüsterte Lena.
Ludwig trat vor den Altar, legte die Hände auf seinem Rücken zusammen und musterte das Chorfenster mit seinen durchdringenden, blauen Augen.
»Ich grüße Euch, Meister Lionel!«, rief er zu ihnen hinauf. »Und gleichfalls Eure schöne Braut. Könntet Ihr mal runterkommen? Ich würde Euch gerne auf Augenhöhe sprechen.«
Nacheinander kletterten sie das Gerüst herunter. Lionel griff nach Lenas Hand und zog sie neben sich in eine Verbeugung, die mit Mühe als Hofknicks durchgehen konnte und ihr einen irritierten Blick von Ludwigs Ratgeber rechterhand einbrachte. Lionels eigene Verbeugung fiel natürlich tadellos aus. Plötzlich hörte Lena Anstetters hämische Stimme. »Dem stinkt der Adel aus dem Mund«, flüsterte sie. Doch das Gespenst verging, wie es gekommen war, und ließ eine Wirklichkeit zurück, in der der König auch sie wohlwollend musterte.
»Majestät!«, sagte Lionel.
»Mein Freund und Lebensretter.« Der König zog Lionel auf die Füße und wandte sich dann Lena zu.
»Meine Liebe!« Er griff nach ihrer Hand und zog sie sanft hoch. »Das Mädchen, das seine Freunde nicht im Stich lässt.«
Lena fühlte, wie flammende Röte ihr Gesicht übergoss. Hätte sie doch wenigstens den blauen Samtmantel angezogen und nicht dieses graue ungefärbte Wollkleid! Valentin hinter dem König war genauso verlegen und drehte immerzu seine Gugel in den Händen.
»Ach, nun tretet schon vor und seid nicht so schüchtern, Valentin Murner!« Ludwig zog den Jungen neben sich. »Ich nehme ihn im nächsten Jahr mit nach Italien, auf dass er die neue Malweise Giottos und die Bildhauerkunst Pisanos kennenlernt. Und seither kriegt er den Mund nicht mehr auf.« Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Und auch Euch, Magdalena und Lionel Jourdain, will ich anbieten, mich auf meiner Italienfahrt zu begleiten. Als meine Freunde in meinem Hofstaat auf meiner bisher triumphalsten Reise! Wenn ich nur meine Krone wiederhätte …«
»Ich danke Euch für die Ehre«, sagte Lionel und sah dem König in die Augen. Von gleich zu gleich, dachte Lena verwundert. »Aber auf mich warten andere Aufgaben. Doch für den Jungen ist diese Reise die Chance, die er braucht. Auch wenn
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