Die Himmelsmalerin
an die Wand des Spitals und dachte nach. Hätte er nach Hause gehen können? Was für eine sentimentale Anwandlung! Onkel Marquard, ich komme geradewegs aus dem Bett des Priors, in das ich gefallen bin wie eine reife Frucht. Fast hätte Kilian über die Vorstellung gelacht. Sein Onkel aber sicher nicht. Und seine Mutter war schon lange fort.
Nie, niemals, ganz egal wie sehr er ihr als kleiner Junge zugesetzt hatte, hatte sie ihm verraten, wer sein Vater gewesen war. Die Familie Kirchhof war reich genug, um über den Skandal hinwegzusehen, hatte aber ihre wenig tugendhafte Tochter bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verheiratet. Sein verwitweter Onkel Marquard hatte sich zwar nicht gerade mit Hingabe um den kleinen Bastard gekümmert, ihn aber auch nicht im Spital abgegeben, was ihm durchaus zugestanden hätte. Es war nicht einfach mit Kilian gewesen – als Kind hatte er den Erwachsenen Löcher in den Bauch gefragt. Aber heute war er nicht mehr der schlafwandelnde Junge, dem der Vollmond so zusetzte, dass ihn sein Onkel mehr als einmal nachts von der Gasse auflesen musste.
So oder so, es war vorbei. Im Osten graute der Morgen und übergoss den Himmel mit Feuer, Aschestreifen in seiner Mitte. Es würde Regen geben. Nie wieder würde er mit den anderen Dominikanern bei der Laudes Christus als aufgehende Sonne loben. Er stand auf, dehnte die kalten, steifen Glieder und machte sich auf in Richtung des Mettinger Tors, das er problemlos durchschritt. Die Torwächter nickten dem Dominikaner ehrerbietig zu, der seine Hände in die Ärmel der weißen Kutte gesteckt hatte. Eine Bauernfamilie kam ihm entgegen, deren Handkarren vor überreifen Zwetschgen überquoll, im Inneren des Tores umkippte und seine faulige Fracht in dunkle Tiefen ergoss. Kilian konnte gerade noch zur Seite springen.
»Heilenssackel!«, brüllte der Bauer. Kein Verdienst heute! Die Kinder, die hinten geschoben hatten, schauten schuldbewusst.
Außerhalb des Tores stieg er steil bergan in die Weinberge. Er hatte sich eine gute Zeit ausgesucht, die Lese war beinahe beendet, die Lagen menschenleer. Es war ein schöner Tag für einen Morgenspaziergang, blauer Himmel, tief unter ihm floss der Neckar dunkelgrün nach Westen. Er kam an den Hängen der Pfleghöfe vorbei, wo die Trauben schon geerntet waren. Da lag der sonnenbeglänzte Weinberg des Zisterzienserklosters Salem, das einen qualitätvollen Weißen in Esslingen anbaute, da die Hänge des Klosters Fürstenfeld, das als Hauskloster König Ludwig selbst belieferte. Bebenhausen bei Tübingen, Blaubeuren vor Ulm, sie alle schworen auf den Neckarwein, der auch seine Familie reich gemacht hatte. Kilian schaute sich um und atmete tief durch. Die Sonne leuchtete golden über den Weinlagen, noch waren die Stöcke grün, noch hatte der Frost sie nicht mit Rot und Schwarz überzogen. Alles war still. Aber was war das?
Etwas unterhalb des Weges, der sich serpentinenförmig den Hang heraufwand, wimmelte es von Menschen. Er trat einen Schritt zurück und unterdrückte einen Fluch. Ausgerechnet die Glasmalerfamilie Luginsland war mit der Arbeit nicht nachgekommen und steckte noch mitten in der Lese. Kilian erkannte Lena am roten Zopf, der ihr lang über den Rücken hing, und an der hellen Stimme, mit der sie ihre Helfer herumkommandierte. Neben ihr teilte der burgundische Glasmaler Kiepen für die Trauben aus. Sie hatten eine ganze Reihe Helfer mitgebracht, mindestens sechs oder acht Tagelöhner und die Lehrbuben. Er hätte wissen müssen, dass die Werkstatt mit dem Chorfenster für die Franziskanerkirche in Verzug war. Die Buben hatten ihm gesteckt, dass sich der Burgunder nach Valentins Gottesurteil für einige Wochen aus dem Staub gemacht hatte. Und Meister Heinrich war krank. Alleine hatte Lena die Arbeit sicher nicht bewältigen können.
Er duckte sich, damit ihn niemand sah, und nahm eine schmale Stiege durch den Weinberg, steil den Hang hinauf, die ihn ein gutes Stück höher wieder auf den Weg führte. Zwischen den abgeernteten Rebstöcken lagen vergoren riechende Traubenreste, über die sich die Wespen hermachten. Die Weinstöcke waren unter dem blauen Morgenhimmel goldgrün, nur ganz am Rand waren die Blätter wie von Rost gesprenkelt. Blutrot leuchteten Hagebutten am Wegrand. Wieder stieg er auf diese Weise steil bergan, bis er völlig außer Atem oben ankam, der Sonne ganz nahe auf der Neckarhalde. Wo hier der Hang in die Hochebene überging, waren die besten Lagen. Einige davon gehörten
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