Die Himmelsmalerin
Prior Johannes nicht so recht gewusst wohin mit Valentin, der weder ein Novize noch ein Mönch war, der seine Gelübde abgelegt hatte. Die kostbar eingerichteten Gästequartiere, in denen im November der König übernachten sollte, entsprachen nicht seinem Stand. Dann war ein uralter Mitbruder gestorben, und er hatte seinen Schützling kurzerhand in dessen Zelle inmitten der Klausur verfrachtet. Valentin war froh über das Privileg, sich anders als die Novizen, die gemeinsam im Dormitorium schliefen, nachts in einen eigenen Raum zurückziehen zu können.
Während sie Kilian durch die stillen Gänge trugen, fragte Valentin sich, warum sie ihn nicht in die Krankenstube brachten. Den Grund dafür begriff er erst, als sie ihn in seiner Zelle auf sein zerrauftes Bett gelegt und die Kapuze zurückgezogen hatten. Ein handbreiter Streifen zog sich knapp unter dem Kinn quer über den Hals, blau, violett und aufgescheuert. Die Verletzung sah der durchschnittenen Kehle von Pater Ulrich so ähnlich, dass Valentins Magen einen Satz machte.
»Das sollte niemand sehen«, erläuterte Lionel. »Darum haben wir ihm die Kapuze übergezogen.«
»Das habt Ihr richtig gemacht, Meister Jourdain«, lobte Thomas und begann, Kilians Hals vorsichtig zu untersuchen.
Wenn es Valentin richtig deutete, hatte Kilian versucht, sich das Leben zu nehmen. Welche Konsequenzen diese Todsünde für den Novizen eines Klosters hatte, wollte er sich lieber nicht ausmalen.
Währenddessen berichtete Lena, was sich zugetragen hatte. Wie sie Kilian während ihrer Mittagspause unter dem Birnbaum gefunden hatten, der im Herbst immer ein beliebter Treffpunkt der Kinderbande gewesen war. Mit einem Strick um den Hals. Und wie sie ihn unter Aufbietung aller Kräfte in die Stadt gebracht hatten. »Er konnte kaum laufen. Aber im Mettinger Tor dachten die Stadtwächter, wir hätten ihn betrunken irgendwo aufgelesen, und ließen uns durch.«
Valentin schüttelte den Kopf, denn über den Verdacht, dem Wein zu sehr zuzusprechen, war Kilian mehr als erhaben.
»Aber warum?«, fragte er. »Warum hat er das getan?«
»Er muss sehr verzweifelt gewesen sein.« Lena griff nach Kilians schmaler, brauner Hand, die still neben seinem Körper auf dem Laken lag.
»Aber warum hat er uns nichts davon erzählt?«
»Weil …« Tränen standen in Lenas Augen. Er sah, wie sie sich zusammenriss. »Ein jeder lebt sein Leben, und was im Dominikanerkloster geschieht, wissen wir nicht.«
Ein jeder lebte sein Leben, das konnte auch für Lena und ihn gelten und für das, was einmal eine gemeinsame Zukunft hätte werden können. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihr Haar, in dem sich Kletten und kleine Grashalme verfangen hatten, fiel wie ein rotgoldener Vorhang über ihr Gesicht und ihre Schultern. Er schluckte und lenkte seinen Blick zu Lionel, der ihn ruhig beobachtete. Wenn schon nicht mich, dann soll sie wenigstens ihn kriegen, dachte er. Auf jeden Fall werde ich verhindern, dass der Tübinger sie wie eine fette Beute in ihr eigenes Haus trägt.
»Helft mir mal, Meister Lionel!« Behutsam griff Bruder Thomas dem Kranken unter die Achseln und hob seinen Oberkörper an, bis er fast senkrecht saß und Lionel ihn stützen konnte. Thomas prüfte Kilians Wirbelsäule, indem er den Kopf auf den Schultern vorsichtig von links nach rechts drehte. Der Kranke stöhnte leise, wachte aber nicht auf. Beim Atmen pfiff es in seiner Kehle, und seine magere Brust bewegte sich viel zu schnell auf und ab. Valentin ertappte sich dabei, wie er mit Kilian im Takt atmete. Eine Bewegung an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Doch es war nur Prior Johannes, der eintrat und sie besorgt betrachtete. »Wie geht es ihm?«
»Sicher kann man es noch nicht sagen.« Thomas wandte Johannes seinen Blick zu. »Konnte er seine Beine bewegen, Meister Jourdain?«
Lionel nickte. »Wenn man es so nennen will.«
»Es sieht ganz so aus, als hätte der Junge noch einmal Glück gehabt. Er hat sich nicht den Hals gebrochen, und auch keinen der Wirbel, soweit ich es sagen kann. Ob die Hände und die Bewegungsfähigkeit des Kopfes eingeschränkt sind, wird sich erst noch zeigen.«
Kilian rang pfeifend nach Luft.
»Und sein Atem?«, flüsterte Valentin.
»Das wird sich geben, hoffe ich. Sein Hals – sowohl die Kehle als auch seine Luft- und Speiseröhre – ist geprellt und geschwollen. Aber das ist klar bei …« Der Arzt räusperte sich, »… dem Druck, dem seine Kehle ausgesetzt gewesen ist.«
Entsetzen erfasste
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