Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Himmelsmalerin

Die Himmelsmalerin

Titel: Die Himmelsmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Rosenberger
Vom Netzwerk:
einmal auf dem schmalen Bett. Und wieder spürte er, wie Balduins Hände von seinen Schultern abwärts glitten, den Rücken, den Bauch, die Schenkel hinunter. Bald, bald, würde er seine Schuld bezahlt haben und wäre frei für seine Buße. Wenn nur sein Körper nicht so willig auf die Berührungen des anderen reagieren würde. Jetzt erst verstand er die antike Parabel vom Wagenlenker. Er hatte die Gewalt über die seltsame Einheit verloren, die aus Körper, Geist und Seele bestand, und überließ dem wilden Tier in sich allen Raum, das nichts anderes wollte, als seine Lust zu stillen.
    Etwas später schlief Balduin tief und erschöpft. Kilian befreite sich aus seiner Umarmung, die ihm die Luft zum Atmen raubte, streifte seine Kutte über und suchte seine Sandalen aus dem Haufen vor der Pritsche. Sein Körper schmerzte an Stellen, die man nicht erwähnen durfte, aber er ignorierte das. Fast hätte er eine von Balduins Sandalen angezogen, die ein gutes Stück länger als seine eigenen waren. Er stellte sich kurz vor, dass er die beiden verschiedenen Schuhe zur Prim an den Füßen tragen und einer der Mitbrüder die absurde Missstimmigkeit bemerken würde. Aber auch das würde nichts ändern. Es gab keinen in diesem Kloster, der nicht schon lange wusste, wer Balduins Favorit war.
    Leise schlich er sich aus der Zelle und tappte über den dunklen Gang. Noch vor ein paar Tagen hatte er gedacht, Gott würde die Pforten der Hölle für Balduin und ihn öffnen, wenn sie diese Dinge taten, aber jetzt wusste er es besser. Gott strafte sie durch sein Schweigen, das in den Gängen des Klosters widerhallte.
    Anders als die anderen Novizen schlief er nicht im Dormitorium, wo sich Nacht für Nacht zehn weitere angehende Mönche furzend und schnarchend auf ihren Pritschen herumwälzten, sondern er besaß seine eigene Zelle. Er hatte diesen Umstand darauf zurückgeführt, dass man ihm schon in jungen Jahren das Amt des Schulmeisters übertragen hatte und dass er für seine Vorbereitungen, aber auch für seine ehrgeizigen Studien, Raum und Ruhe brauchte. Doch vielleicht machte sich auch hier der Einfluss des Priors bemerkbar, der seinen Jungen ganz für sich haben wollte.
    Er öffnete die Tür seiner Zelle und schlüpfte hinein. Wo war das Seil? Er bückte sich und zog den Holzkasten unter seiner Pritsche hervor, in dem er seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Tatsächlich, da lag es zusammengerollt wie eine schlafende Schlange. Er hatte es dem Rabauken Jörg abgenommen, der damit seine Spießgesellen fesseln wollte, und einer Eingebung folgend behalten. Als er es in die Tasche seiner Kutte steckte, glitten die Hanffasern rau und verheißungsvoll über seine Finger. Zweifellos war es ein Weg. Er warf noch einmal einen Blick zurück auf sein Reich, das schmale Bett mit der Strohschütte und dem Leinenlaken, das seiner Lebensweise als Bettelmönch entsprach. Die Bücher, die er sich aus der Bibliothek geliehen hatte. Ein letztes Mal glitten seine Finger über die dicken Pergamentseiten und die prächtig illuminierten Initialen. Er hatte nicht gewusst, dass Farben Hitze und Kühle ausstrahlen konnten wie verschiedenes Wetter und dass sich Rot und Blau in die Fingerspitzen setzten, wenn man sie berührte. Davor lag der Kommentar zu Augustinus, der nun nicht mehr fertiggeschrieben werden würde.
    Er verließ seine Zelle ohne Bedauern und schlich sich aus dem Kloster wie ein Dieb. Weiß gekalkte Wände, die ihn einschlossen, die ihm die Luft zum Atmen nahmen. Hatte es auch Prior Balduin so gemacht, in der Nacht, als Pater Ulrich starb? War er dem Pater nachgeschlichen, was auch immer diesen in die Stadt getrieben haben mochte? In den Mauern seines Klosters regierte der adlige Prior wie ein König, war selbst das Gesetz. Niemand traute sich, ihm Vorhaltungen zu machen, niemand außer Pater Ulrich, der sich mit heiligem Misstrauen und brennendem Eifer darangemacht hatte, die Verfehlungen seiner Mitbrüder aufzudecken, und dabei, unbestechlich wie er war, auch den eigenen Prior nicht ausgelassen hatte …
    Vorsichtig öffnete Kilian die Pforte. Sie war unverschlossen, zum Glück! Wieder ein Zeichen für die laxe Zucht unter den Esslinger Dominikanern.
    Er stand draußen, auf dem Platz zwischen Spital und Klosterkirche, und atmete gierig die kühle Nachtluft ein. Ein bleicher, silbriger Vollmond übergoss den Platz mit seinem Licht. Was jetzt? Irgendwie musste er die Stunden überbrücken, bis die Tore geöffnet wurden. Kilian kauerte sich

Weitere Kostenlose Bücher