Die Himmelsmalerin
seiner Familie. Dahinter begannen die Obstwiesen mit ihren Apfel-, Birnen- und Zwetschgenbäumen. Das bräunliche Gras darunter war von blassen lila Herbstzeitlosen gesprenkelt. Weit weg im Dorf Sulzgries krähte ein Hahn.
Kilian überquerte die Wiese, bis er zu einem dornigen Brombeergebüsch kam. Dahinter stand versteckt und von der Wiese aus fast unsichtbar ein Birnbaum, der voller gelber, überreifer Früchte hing. Wespen umschwirrten sie, aber Kilian hatte keinen Hunger. Er setzte sich auf den Boden, den Rücken an den Baum gelehnt, dessen Rinde sich rau durch seine Kutte drückte. Als Kinder hatten sich Kilian, Valentin und Lena im Herbst hier getroffen und die süßen Birnen verspeist, bis ihnen beinahe die Bäuche platzten.
Eigentlich hatte er gedacht, dass sich am Ende eines Lebens alle Erinnerungen auf einmal einstellten, dass man Bilanz zog, aber das war nicht so. Sein Entschluss war gefasst, aber sein Kopf blieb leer. Er saß da und wartete, ließ die sandige Erde durch seine Finger gleiten, ein trockener Herbst, der den Boden auszehrte, und dachte an nichts. Mit den Fingern zeichnete er die griechischen Buchstaben für Alpha und Omega in den Sand. Anfang und Ende, so viele zerronnene Träume. Aber es war nur angemessen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, ein Leben für ein Leben. In der Tasche seiner Kutte lag das Seil und wollte gebraucht werden.
Irgendwann kam ein Junge vorbei, mager, mit nichts als einem zerlumpten Kittel bekleidet, der eine Herde neugieriger Ziegen vor sich hertrieb. Er bemerkte ihn zwar, grüßte ihn sogar ehrerbietig, machte sich dann aber mit Genuss über die Birnen her. Woher hätte er auch wissen sollen, dass man Kilian im Kloster sicher suchen würde, weil er schon mehrere Gebetszeiten verpasst hatte und seine Schüler vergeblich auf ihn warteten. Der da konnte sicher noch nicht einmal seinen Namen buchstabieren. Gegen Mittag aß auch Kilian eine Birne. Der süße Saft rann ihm übers Kinn.
Irgendwie gab ihm die Frucht die Kraft, zu tun, was getan werden musste. Er stand auf, über ihm dehnte sich riesig und durchsichtig der Himmel. Weiße Wolken glitten durchs Blau. Das Seil fühlte sich rau an, er knüpfte eine Schlinge und darunter einen Knoten, den er mit einem kräftigen Zug ausprobierte. Hoffentlich hielt der auch, was wusste er denn, wie man so etwas machte! Dann suchte er sich einen Felsblock, auf den er steigen konnte, fand einen nahe am Weg, musste aber feststellen, dass dieser viel zu schwer für ihn war. Mist, er hätte an Alternativen denken sollen! Über den anstrengenden Vorbereitungen vergaß er fast, weshalb er hergekommen war. Aber schließlich fand er, was er suchte. Er trug den Baumstumpf aus einem frisch geschlagenen Stapel Obstholz zu seinem Birnbaum, stieg darauf und befestigte das Seil an einem Ast. Noch einmal dran ziehen – das Seil hielt. Alles bestens. Jetzt konnte er es doch eigentlich gleich tun. Aber nein. Er stieg wieder hinunter und rannte mit federnden Sprüngen zum Rand der Wiese, die ihm einen unglaublichen Ausblick über das Neckartal bot. Weite, bis hin zu den Hügelketten der Schwäbischen Alb, die im Blau verschwanden. Killian hatte gar nicht gewusst, dass Luft so köstlich schmecken konnte. Er blieb stehen und drehte sich selbstvergessen im Kreis herum. Die Hänge, der Fluss, der Himmel. Er nahm Abschied von allen, die ihm je etwas bedeutet hatten. Valentin, Lena, sein Onkel, sogar seine sehr viel älteren Vettern, die den kleinen Kilian immer übersehen hatten, die Lehrer in der Schule, die ihn mit den Büchern bekannt gemacht hatten. Nur Balduin, dem gönnte er keinen Gedanken mehr. Dann ging er zurück, stieg auf den Baumstumpf, steckte den Kopf in die Schlinge und sprang.
Der Druck auf seine Kehle war fürchterlich. Sein Kopf schien aus seiner Verankerung im Rückgrat zu springen, Schmerz, der seine Augäpfel aus den Höhlen trieb, rote Schlieren vor den Augen. Er strampelte mit den Beinen und fühlte nicht, wie sein Urin ihm die Beine herunterlief, denn in diesem Moment brach der Ast, an dem das Seil hing, und Kilian landete unsanft auf dem Boden. Sofort ließ der Druck auf seinen Kehlkopf nach. Eben hatte er noch sterben wollen, jetzt sehnte er sich nach einem einzigen ungestörten Atemzug. Luft! Er warf sich auf den Boden und rang danach mit aller Kraft. Luft war so kostbar. Odem, Atem, mit dem Gott Adam ins Leben gerufen hatte. Würde er jetzt ersticken, langsam, qualvoll, weil er sich bei seinem Versuch, sich das Leben zu
Weitere Kostenlose Bücher